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15 Minuten

7:27 Uhr

Das Klackern des mechanischen Linienanzeigers war weithin zu vernehmen. Es dauerte etwa eine halbe Minute, bis das obere Feld mit neuen Informationen gefüllt war: „Linie 6“ stand dort in der für die Sechs typischen, violetten Farbe. Und direkt daneben in der Richtungsanzeige: „Barbensen“. Etwa 15 Sekunden und weitere 20 Klackgeräusche vergingen, bis nun auch die Nahziele in dem dafür vorgesehenen kleineren Kasten direkt unter dem Fernziel auftauchten: „Klosterkirche St. Matthäus, Städt. Kliniken“. Während die am Bahnsteig Wartenden erleichtert die neue Information lasen und sich bereits in Sicherheit wiegten, ließ das Klackern der Anzeige nicht nach. Es folgten einige weitere Geräusche dieser Art, unbeirrt der Tatsache, dass nun bereits alle für die Umstehenden notwendigen Informationen gegeben waren. Vielmehr rückte nun ein schmaler Kasten neben der Richtungsanzeige ins Blickfeld, der unter normalen Umständen nicht beachtet worden wäre: „Verspät.“, hieß es dort in großer, roter Schrift. Das plötzliche Auftauchen dieses äußerst unschön abgekürzten Wortes entlockte der Menge ein lautes Stöhnen, in das sich eine grundsätzliche Diskussion über die mangelnde Zuverlässigkeit des öffentlichen Nahverkehrs, insbesondere im innerstädtischen Bereich, anschloss. Aus diesem sehr lebhaften Gruppengespräch entwickelte sich schnell belangloses Schweigen, sobald der allgemeine Unmut über die derzeitige Situation verflogen war. Die hier Versammelten warteten, und das war nun klar, alle auf die Sechs. Weitere Gemeinsamkeiten gab es keine.

Während Dr. Erdhoff wutentbrannt den Flur entlangging und sich, noch immer, über die fehlende Intelligenz und Kompetenz bestimmter Krankenschwestern aufregte, erreichte ihn auf seinem Piepser eine kurze Nachricht: „Unf. a. Goethestr., PKW m. Bahn koll.“ Die Wut schlug in Adrenalin um und der Doktor zeigte einmal mehr, warum er während seiner Zeit als aktiver Sportler den Beinamen „Gazelle“ trug. Bereits etwas später hatte er alle notwendigen Einsatzkräfte mobilisiert.

Der Aufprall, so würden die Zeugen später einvernehmlich zu Protokoll geben, sei nicht das Schlimmste gewesen. Vielmehr habe das abrupte Abbremsen der Bahn, gefolgt von einem schrillen Klingelton, sie völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Die meisten versuchten zwanghaft, sich an ihren Sitzplätzen festzukrallen, taumelten aber bald schon, da die äußere Kraft doch zu stark war, auf den harten Boden. Hartgesottene und Zuspäteingestiegene, welche die Bahnfahrt eher im Stehen genießen wollten oder mussten, wurden unsanft durch den Gang der Straßenbahn geschleudert und landeten, je nach Körpergröße und Gewicht, zwischen den Stühlen. In den Gängen häufte sich alsbald ein Durcheinander aus Schulkindern und Rucksäcken auf, was zu dieser Uhrzeit nicht ungewöhnlich war. Allerdings war es eher ungewöhnlich, erstere liegend und nicht stehend oder gar sitzend in der betreffenden Bahn anzutreffen.

Durch die Wucht knallte der junge Mann mit dem Kopf gegen das Lenkrad. Binnen weniger hundertstel Sekunden sprang der Airbag heraus und füllte sich mit Gas. Die Stirn auf das weiche Kissen gelegt gingen etliche Gedanken in seinem Kopf herum. Vor seinem geistigen Auge erschienen verschiedene Mitglieder seiner Familie, darunter natürlich seine Eltern und sein Bruder. Allerdings fanden auch seine Freundin und seine besten Freunde Platz in der vergänglichen Bildergalerie, auf die ein komplett dunkler Raum ohne Lichtschalter folgte. Nacht. Nichts als ein schwarzes Bild! Und das am helllichten Tag! Der optische Eindruck der Dunkelheit wurde vom rhythmischen Pochen seines – oder war es das eines anderen? - Herzens noch verstärkt, bis ihm das Blut in den Adern gefror und er in einen tiefen Schlaf fiel. „Hier ist WDR2 mit dem Morgenmagazin! Wir wünschen allen Autofahrern eine gute Fahrt.“

SAD STORYS ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt