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7:36 Uhr

„Ja, wen haben wir denn da?“, fragte ihn ein Mann in weißer Tracht und genau in diesem Moment kam er sich wie in einer schlechten Arztserie vor. „Treberg, Vorname Thomas, 33 Jahre alt. Hat durch den Aufprall schwere Verletzungen an Kopf und Brust erlitten, Verdacht auf Brustbeinbruch und Gehirnerschütterung.“ Diese Stimme gehörte einer jungen Dame, die ihn zuvor ausführlich untersucht hatte und die er, wäre er Herr seines Sehsinns gewesen, unter anderen Umständen durchaus als attraktiv angesehen hätte. Nun aber überließ sie ihm seinen Schicksal oder eher diesen beiden Herren, die sich in das Wageninnere beugten und, wie es schien, sein weiteres Schicksal besiegeln sollten.

Nun also doch! Die riesigen Buchstaben waren wieder verschwunden, obwohl es von der angekündigten Sechs immer noch keine Spur gab. Stattdessen fuhren nun die Dreien und Zweien an den Wartenden vorbei, um sie zum Narren zu halten und die Existenz einer Linie sechs zu leugnen. Pech gehabt! Die meisten Anwesenden blickten verlegen drein und zuckten mit den Schultern. Andere liefen umher, sprachen mehr mit sich selbst, indem sie die schlechten Seiten des Nahverkehrs aufzählten. Allerdings gab es keine größeren Aufregungen mehr, so wie es noch vor neun Minuten der Fall gewesen war. Ein paar Jugendliche zogen ihre MP3-Spieler aus den Hosentaschen und stöpselten sich ihre Kopfhörer in die Ohren. Eine Frau mittleren Alters plärrte in ihr Handy. Da sie sich in einem U-Bahnhof befand, fiel es ihr aufgrund des mangelnden Empfangs schwer, ihr Gegenüber zu verstehen. Die schlechte Netzqualität versuchte sie durch ihre laute Stimme wettzumachen, was jedoch bei den Umstehenden nicht auf Verständnis stieß.

„Eine wichtige Durchsage für die Fahrgäste der Linie sechs: Aufgrund eines Verkehrsunfalls auf der Goethestraße Höhe Schillerstraße wird sich die Weiterfahrt der sechs um etwa fünf weitere Minuten verzögern. Wir danken Ihnen für Ihr Verständnis.“

„Und dann hat es einen lauten Knall gegeben: RUMS!“, Jonas und seine Freunde hatte nichts mehr auf ihren Plätzen gehalten. Als dann noch die Polizisten kamen und ihre Zeugenaussage aufnahmen, war ihr Tag gerettet. Alles in allem hatte der plötzliche Unfall ihre Bahnfahrt aufgepeppt. Es war geradezu cool, dass ihr zur Gewohnheit verkommener, alltäglicher Gang zur Schule einen hippen Zwischenstopp erfuhr. Wenn bloß dieser Autofahrer nicht gewesen wäre, um den sich die Clique der Zwölfjährigen Sorgen bereitete. Wie es ihm wohl ging? Hatte er alles gut überstanden oder würde er bleibende Schäden davontragen?

„So, das war es dann! Vielen Dank für Eure Hilfe!“, sagte einer der Polizisten, der seinen Block zuklappte und den Kugelschreiber wieder in die Hemdtasche steckte. Jonas' Berühmtheit war ebenso schnell gegangen wie sie gekommen war. Dafür hatte er in Jana eine neue Freundin gefunden.

7:39 Uhr

Dr. Lange wartete. Quälend rasselnden die beweglichen Buchstaben der Anzeige, doch offenbarte jede neue Anzeige nur eine herbe Enttäuschung. Keine Sechs, dafür jede Menge Zweien und Dreien. Verdammt! Das wird wohl heute nichts mehr, dachte er. In seinem Kopf ging er bereits alternative Beförderungsmittel durch, suchte zwanghaft nach geeigneten Buslinien, die zumindest in der Nähe der Städtischen Kliniken hielten. Nichts! Leere! Fast so schlimm wie auf dem Linienanzeiger. Es klackerte erneut und die Schwärze verschwand. „Rauchen verboten!“, mahnten weiße Buchstaben und daneben, in einem roten Kreis mit rot eingezeichnetem Durchmesser, eine Zigarette.

Im Rettungswagen war es angenehm warm. Jetzt erst merkte er, dass er doch ziemlich ausgekühlt war. Die Ärzte waren nett und kümmerten sich um ihn und da er sich nun in Sicherheit befand, schloss er zufrieden die Augen und ließ sich gehen. Seine eigene Welt entstand in seinem Inneren. Er bekam nichts von der Außenwelt mit. Nicht, wie ein Abschleppwagen sein Auto abholte. Nicht, wie Feuerwehr und Polizei abrückten. Nicht, wie die Fahrgäste in eine neu bereitgestellte Bahn einstiegen. Nicht, wie diese davonfuhr. Nicht, wie der Rettungswagen mit ihm hinten drin sich seinen Weg zu den Städtischen Kliniken bahnte. „Er hat eine Menge Blut verloren, aber ich bin optimistisch, dass wir das wieder hinkriegen!“ Na, wenn das mal keine gute Nachricht war.

7:42 Uhr

Die Linie sechs nahm wieder ihren Betrieb auf. Vorbei an den gewohnten Haltestellen bis zum Hauptbahnhof. Dort stieg Dr. Lange ein, der sich mit einem teils erleichterten, teils gestressten Gesichtsausdruck auf die Polster fallen ließ. Sein Vorstellungsgespräch war also gerettet. Jonas, seine Freunde und seine neue Freundin stiegen eine Station später aus und gingen zu ihrer Schule. Die 6b hatte in der ersten Stunde Mathematik. Doch Herr Treberg kam heute nicht.

SAD STORYS ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt