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Das leere Blatt Papier

Regungslos saß ich an meinem Schreibtisch und starrte schon seit einer Ewigkeit auf das leere Blatt Papier vor mir. Draußen gewitterte es, doch nichts vermochte mich dieser Zeitlosigkeit zu entreißen. Der so oft verstaute und wieder geöffnete Schuhkarton stand noch neben mir am Boden, und ich konnte mit geschlossenen Augen aufzählen, was er enthielt. Einen kleinen Schutzengel, eine dünne Lederkette, einen Liebesbrief. Eine Kerze. Ein Stoffherz. Und eben dieses leere Blatt Papier. 
Es war mittlerweile zu einer Art Ritual geworden. Jeden Tag holte ich den schlichten Karton unter meinem Bett hervor. Jeden Tag verzweifelte ich vor dem leeren Blatt. Ich weiß nicht, wie lange das schon so ging. Um ehrlich zu sein, wusste ich es schon, sogar auf den Tag genau. Ich wollte mir lieber weiter einreden, dass ich es nicht wusste, dass ich es vergessen hatte.

Ein lautes Klingeln riss mich aus meinen Gedanken und ließ mich herumfahren. Mir schien es Wochen her, dass das letzte Mal jemand an meiner Tür klingelte. Ich öffnete und erblickte meine beste Freundin, deren Gesichtszüge ich besser kannte als die eigenen. Sie lächelte und schloss mich in die Arme. „Es macht nichts, dass du dich seit Monaten nicht mehr gemeldet hast. Ich bin nicht sauer. Aber so kann es nicht weitergehen. Du musst wieder anfangen zu leben.“
Wieder saß ich regungslos vor dem leeren Blatt. Mir war schwindelig, und ich wollte am liebsten wegrennen, einfach fort von hier. Ich spürte ihre Hand, wie sie mir sanft den Rücken streichelte. „Ich werde mich hier aufs Bett setzen und einfach da sein. Ich bin für dich da.“ Eine einsame Träne lief meine Wange hinab und tropfte lautlos auf das weißte Blatt. Ich hob den Stift und setze ihn zitternd an. „Lieber Andreas“, begann ich, „dein Lächeln. Jede Nacht habe ich dein Lächeln vor Augen.“

Ich schrieb und schrieb, schrieb unter Tränen und wie ihm Wahn, alles, was ich ihm nie sagen konnte. Wie sehr ich ihn vermisste, was ich an ihm liebte, die kleinen Momente, in denen er mich glücklich machte. Ich schrieb, bis ich keine Kraft mehr hatte, bis mir die Tränen die Sicht nahmen und ich starke Arme fühlte, die sich um meinen Körper legten. 
Gemeinsam legten wir den fertigen Brief zurück in den Schuhkarton und vergruben ihn im Garten. Und mit ihm all die Trauer um meinen toten Mann, die mir die Kraft nahm zu leben.

SAD STORYS ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt