2 - Rosie

416 16 15
                                    


Schottland, Herbst 1421


Es war seltsam nach all den Jahren wieder diesen Pfad hinauf zu reiten. Zwar war es für ihn nur eine kurze Zeit gewesen, doch von der Heimat entfernt zu sein fühlte sich immer länger an.

Lord Holmes empfand es nun wieder als ungefährlich das Anwesen der Watson zu betreten. Vielleicht wollte er aber auch wieder das Schloss sehen, den leicht modrigen Geruch einsaugen und von den Turmzimmern aus auf die Weiten Schottlands sehen.

Vertraut wucherten die Tannen über den Steinweg. Wie hatte er doch den winterlichen Geruch nach Fichtennadeln vermisst. Eine seiner liebsten Beschäftigungen war es gewesen die Nadeln zu sammeln und als Medizin zu verkaufen – beziehungsweis einzutauschen. Lange war es her ...

Da fiel ihm wieder ein weshalb er überhaupt abwesend gewesen war. Er hatte nun einige Zeit gehabt sich eine plausible Geschichte einfallen zu lassen über seine imaginierte Familie. Genau nachfragen würde sowieso niemand, doch ein kleiner Fehler konnte schon zu ungewollten Fragen führen. Auf den letzten Minuten ging er die ganze Narration noch einmal durch. Von krankem Vater über die verlorene Arbeitsstelle, dass er selbst eine Arbeit als Verwalter annehmen musste bis der Neffe alt genug war die restliche Familie zu versorgen. Die Schwestern wurden auch krank weshalb er nicht weg konnte. Dass die Mutter schon gestorben war passte noch als Krönung obendrauf. Das Ganze klang doch recht plausibel.

Schon blitzte das matte Rosa-beige der Burgtürme auf. Wie ihn die Watsons wohl begrüßen werden? Hatte die kleine Rosie ihn vergessen oder doch etwas den Eltern verraten? Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihm breit, so wie seine echte Familie wollte er nicht enden. Außerdem spielte ihm der erdrückende Gedanke im Hinterkopf, dass er der letzte war, denn bis jetzt hatte er niemanden wie sich gefunden. Und er kannte fast die ganze Welt. Der Lord wünschte seine Eltern hätten es verraten. Wenigstens einem von ihnen. Dann wüsste er nun, ob die Suche überhaupt einen Sinn machte. Seit er ihn Schottland seine wirklichen Geschwister verloren hatte hielt ihn der Ort fest und er würde immer dorthin zurückkehren. Es war ihr Ort gewesen über so viele Jahrhunderte hinweg, niemand würde ihn je endgültig von hier vertreiben können. Dafür war zu viel von seiner Familie hier, dies war der einzige Ort an dem er sich fühlte wie ... zu Hause.

Mit gemischten Gefühlen zog Lord Holmes die Zügel zurück. Sträubend blieb das dunkle Tier unter ihm stehen und machte die Wachen auf sich aufmerksam. Sie waren noch die gleichen wie bei seiner Abreise.

„Lord Holmes, welche Überraschung." Rief einer der Wächter überrascht und verbeugte sich unterwürfig. Der Fürst musste lächeln, als er auf den Wachmann hinunter blickte, der deutliche Falten um die Augen und auf der Stirn aufwies. Er war alt geworden. Grübelnd ritt er durch das Tor, in den Innenhof und zum Stall. Unter tuschelnden und verwunderten Arbeitern gab er sein Pferd einem Jungen, den er nicht kannte. Eindeutig der Stalljunge mit der Schürze, in der ein Hufeisenauskratzer hing, die Haare voller Heu. Er erinnerte ihn an den kleinen Jungen auf dem letzten Ball in der Burg. Da kam ein junger Mann zum Vorschein, der dem jungen brüderlich etwas zu rief. Es brauchte einen Moment bis er den Stalljungen von früher erkannte, jetzt voll ausgewachsen und vom Schmiedeeisen gezeichnet, stark gebaut, verrußt und mit einer Schürze, dieselbe wie sein kleiner Bruder, der gerade die Zügel des stolzen Hengstes hielt.

War wirklich so viel Zeit vergangen? Hatte er die paar Jahre so sehr unterschätzt?

Die großen Tore schwangen auf und er trat ein. Der wohlbekannte Geruch schlug ihm entgegen, das Klacken seiner Schritte auf dem Boden, das Sonnenlicht welches Schattenmuster auf die Wände warf, alles machte ihm bewusst, wie sehr er diesen Ort vermisst hatte.

You better not love meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt