Prolog

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The Beginning

"There is no greater sorrow than to recall in misery the time when we were happy."– Dante

The day before

Es roch nach Apfelkuchen.

Das ist das erste, woran ich mich erinnere. Die Luft war warm und trocken, doch das Gebäck meiner Mutter streute seinen Duft durch das Fenster der Küche hinaus bis in den Garten hinaus, wo mein Bruder und ich mit unseren Besen im Kreis flogen.

Ein Ball schnellte zwischen uns hin und her, es war ein Wettbewerb: Wer konnte ihn schneller werfen.

Lucifer gewann jedes Mal.

"Luciana, Lucifer!" Die sanfte, warme Stimme meines Vaters fand ihren Weg zu uns und der Ball knallte aus drei Metern Höhe auf den Boden.
Vor Freude jauchzend setzten wir zum Sturzflug an, in der Küche konnte ich meine Mutter sehen, wie sie vor Sorge die Hände vor den Mund hielt.

Sie hasste es, wenn wir so schnell flogen. Es gehörte sich nicht. Was sollten die Nachbarn denken?
Doch der Wind, der durch meine Haare fuhr, an meinen Ohren vorbeirauschte und an meinen Armen brannte ließ mich die Freiheit spüren, die ich leben wollte.

Lucifer war zuerst auf dem Boden.

Er schmiss seinen Besen neben die cremig-weiße Hauswand, das dunkle Braun des Holzes war schon übersäht mit feinen, hellen Kratzern, die all unsere Abenteuer bezeugten.
Jedes Mal, wenn man sie ansah, schossen einem die Erinnerungen durch den Kopf.
Erinnerungen an peitschende Wellen unter uns, Bäume, Blätter und Äste um uns herum, Vögel, die mit uns Richtung Süden flogen.

Unser Vater hatte uns einmal im Monat, jeden Vollmond, auf eine lange Reise mitgenommen.
Wir hatten mit unseren Besen und Proviant für drei Tage gestartet und waren jedes Mal in eine andere Richtung geflogen, ohne ein bestimmtes Ziel erreichen zu wollen.

Wir waren in den unterschiedlichsten Städten gelandet, in Dörfen und einmal sogar auf einem Bauernhof in Schottland, das einzige Gebäude in mehreren Meilen Umkreis.
Der Mann, der dort lebte, hatte nicht viel. Er lebte von dem, was er sich am Tag selbst erarbeitete und manchmal reichte es kaum für ihn selbst.
Doch an diesem Tag, als wir ausgehungert an seiner Tür klopften, schien er sich nicht über unsere Kleidung zu wundern oder die Tatsache, dass wir fliegen konnten. Er lud uns ein und gab uns alles was er besaß.

Heute machte mein Vater keine Ausflüge mehr mit uns. Seit zwei Jahren nicht mehr. Lucifer und ich waren beide neun Jahre alt, wir sahen einander außergewöhnlich ähnlich.
Wir teilten uns nicht nur unsere Spielzeuge und unser Wissen, sondern auch unseren Geburtstag und unsere Freunde.

Die aschblonden Locken meines Bruders hüpten mit jedem seiner langen Schritte mit, als er voller Vorfreude in unser riesiges Haus rannte.
Dort erwartete uns schon an dem länglichen Esstisch im Wohnzimmer die Familie, die wir unsere engsten Freunde nannten.

Die Blacks waren drei Tage bei uns zu Besuch gewesen, wir hatten den Geburtstag von Regulus gefeiert, einem liebevollen, fröhlichen, nun siebenjährigen Jungen mit den gleichen, dunklen grauen Augen, wie sein großer Bruder sie hatte.
Alle waren stolz auf ihn, Regulus wusste, wie man sich in seinen Kreisen benehmen musste.
Er war ein Geschenk an die reiche Blutslinie gewesen.

Der Kuchen glänzte goldbraun und neblige Dämpfe stiegen von seiner Oberfläche in die Luft, selbst Walburga Black, die Mutter der beiden Jungen, konnte sich ein leises Zucken mit den Mundwinkeln nicht verkneifen.

Regulus unterbrach sein Tun, er war gerade dabei gewesen, seinem Bruder den Siegelring mit dem Familienwappen zu klauen, und lief aufrecht und doch gut gelaunt zum Esstisch.

Orion Black war der erste gewesen, der das Glas gehoben hatte.
"Auf meinen kleinen Sohn."
Die anderen hatten es ihm nachgetan.
"Auf Regulus."

Niemals hätte ich, das unscheinbare Mädchen gedacht, dass dies das letzte Mal sein würde, an dem ich mit ihnen zusammen den Geburtstag eines Freundes feierte.
Niemals wäre mir der Gedanke gekommen, dass ich erst viele Jahre später erneut auf diesen Namen trinken würde, jedoch unter anderen Umständen.

Doch das Leben macht nunmal nicht das, was wir kleinen, unbedeutenden Menschen gerne hätten.
Es ist unberechenbar und grausam und macht sich einen Spaß daraus, uns auf die gemeinsten und hoffnungslosesten Proben zu stellen.

Geliebte Menschen sterben.

Überlebende verlieren den Verstand.

Freundschaften gehen an der Trauer kaputt.

Viele Jahre später würde ich mich immernoch nicht trauen, an diesem Tag zurückzudenken, ohne an Schuldgefühlen zu zerbrechen.
Es würde meine Schuld sein, alles was danach passieren würde.

Doch woher hätte ein kleines Kind wie ich das wissen sollen?
Alles, was mich in diesem Moment interessierte, war, ein besonders großes Stück Apfelkuchen abzubekommen.

Niemals hätte ich gedacht, dass mein Wunsch, am nächsten Tag Regulus bis zum Bahngleis zu begleiten, mich auf die härteste aller Proben stellen würde.

Das nächste, woran ich mich erinnere, ist Feuer.

Es roch meilenweit danach, den Rauch konnte man bereits aus weiter Entfernung sehen.

Mein Vater murmelte bereits an zwei Kreuzungen vor der Straße, die zu unserem Haus führte, immer wieder die gleichen Worte.

"Nein, bitte nicht."

Niemals hätte ich gedacht, dass ich mein Leben, meine Zeit mit meiner Familie, nicht ausreichend genutzt hätte.
Ich hatte mit meinem Bruder gespielt, mit meiner Mutter unter der Decke vor dem Kamin gelegen.
Doch ich hätte so viel mehr tun sollen.

Unser Haus war nicht wiederzuerkennen.
Die komplette rechte Hälfte des Gemäuers war zerstört und zerfallen, die andere Hälfte stand immernoch in Flammen.

Der qualvolle Schrei meines Vaters hallte noch minutenlang nach, während ich einfach nur da stand.

Ich verstand die Ausmaße der Szene, die sich mir bot nicht.
Ich verstand nicht, das dieses Unglück der Auslöser zu einem noch viel größeren Chaos sein sollte.

Wie hätte ich auch sollen.
Ich war neun Jahre alt.
Und bereits damals hatte ich den Sinn fürs Leben neu definieren müssen.

Like the moon - Luciana GreenthornWo Geschichten leben. Entdecke jetzt