Wahrheiten tun manchmal weh

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Angst. Dieses Gefühl beherrscht jeden Zentimeter meines Körpers. Es lässt mich kaum noch zu Atem kommen und das Gefühl der Enge in meiner Brust nimmt mit jeder Sekunde die verstreicht zu. Ich starre auf dieses Mahnmal auf meiner Tür und weiss nicht was ich tun soll. Mein Gehirn ist wie leer gefegt, als wäre alles was sich einmal darin befand wie weggespült worden. Als wäre die Flut gekommen und hätte alles mit sich fort getragen. Ein schreckliches Gefühl.

Als ich mit der Hand die Halterung meiner Waffe berühre kommt mir ein Name in den Sinn. Vincent! Ich muss Vincent anrufen, denke ich panisch und krame mit zittriger Hand mein Handy heraus. Meine Finger zittern wie Espenlaub, Gott sei Dank habe ich ihn als Kurzwahl gespeichert. Ich drücke die Taste zwei und höre es klingeln. Und klingeln und klingeln. "Nimm schon ab", fluche ich und bringe nur einen Schluchzer heraus, als ich endlich seine Stimme höre.

"Haylie? Hallo? Bist du das?", fragt er besorgt. Ich will nicht weinen, aber ich kann nicht anders. Panik äussert sich bei jedem Menschen anders, einige sind still, andere schreien, ich wiederum weine. Schluchzer schütteln mich grob durch, lassen meinen Körper erbeben und lassen mich keinen geraden Satz bilden. "Verdammt Hay, was hast du?", knurrt er. Ich höre wie er aufsteht und wie er jemandem etwas zuruft, eher er sich auf den Weg macht. Ich will nicht, dass er die Arbeit verlässt, doch ich hindere ihn nicht daran. Ich höre ihm zu wie er das Gebäude verlässt und den Motor startet. Als es kurz still wird, habe ich Angst das er aufgelegt hat, doch als ich dann seine Stimme wieder höre, atme ich zwischen zwei Schluchzern erleichtert auf.

"Erzähl mir etwas", fordert er mich auf. Stirnrunzelnd wische ich mir über das Gesicht, doch die Tränen wollen einfach nicht versiegen. "Was?", frage ich krächzend. Ich will mich beruhigen, mich sammeln, doch es geht einfach nicht. Als hätte jemand meinenTränendrüsen befohlen unaufhörlich zu laufen, als wäre etwas defekt. So fühlt es sich auch gerade an, als hätte ich keine Kontrolle mehr über meinen Körper. Oder meinen Geist.

"Egal was. Erzähl mir etwas, Haylie. Schnell, das was dir als erstes in den Sinn kommt", sagt er und flucht, aber weswegen weiss ich nicht. Ich versuche mich zu konzentrieren, blende die Tränen kurz aus und schliesse die Augen. "Berge", antworte ich nach einer Weile. "Gut. Und jetzt stell ihn dir vor. Wie sieht er aus? Wo steht er? Erzähl mir einfach alles", erwidert er mit ruhiger Stimme. "Er ist gross, schroff und sieht von Weitem etwas schräg aus. Auf seiner Spitze liegt Schnee und er steht in mitten einer kargen Landschaft." Während ich ihm mehr von der Landschaft erzähle, spüre ich wie ich langsam ruhiger werde und die Tränen auch weniger werden. Bis sie irgendwann gänzlich versiegt sind.

"Haylie? Ich komm jetzt rauf, okay?", höre ich plötzlich seine Stimme. Ich öffne die Augen und drehe mich um, sehe wie er die Treppen hinauf rennt und stürze mich in seine Arme, ohne den Anruf zu beenden. Er erwidert die Umarmung und presst mich an sich, streichelt mir beruhigend über den Rücken. Ich weine nicht mehr, aber das Zittern ist geblieben. Doch in seinen Armen wird es weniger und als ich mich soweit beruhigt habe, löse ich mich von ihm. "Wieso wusstest du das ich hier bin?", frage ich. Sicher er hat mich nach Hause geschickt, aber ich war ja noch einkaufen. Also hätte ich überall sein können.

"Ich habe dein Handy orten lassen. Sorry Hay, aber ich musste dich finden. Du klangst so aufgebracht, dass ich nicht anders konnte", sagt er und lächelt mich schief an. Normalerweise wäre ich darüber verärgert, aber jetzt bin ich froh. "Danke", sage ich. "Jemand hat das an meine Tür geschmiert", füge ich nach einigen Sekunden hinzu. Vincent schiebt mich sanft von sich und sieht sich die Tür genauer an. "Wir sehen dich!", murmelt er. Ich stelle mich neben ihm hin und warte auf seine Einschätzung.

"Das gefällt mir nicht. Egal wer das war, er hat dich im Auge und weiss was du tust. Am besten wir verschwinden von hier, falls die Leute noch in der Nähe sind", sagt er und sieht mich eindringlich an. Eigentlich habe ich mich auf meine Wohnung gefreut, doch jetzt bin ich hier nicht mehr sicher. "Du hast recht. Los gehen wir." Vincent nickt und zusammen verlassen wir das Gebäude, draussen auf der Strasse schaue ich mich suchend um, doch ich kann nichts verdächtiges erkennen. "Wir fahren am besten ein Stück", erklärt Vincent und hält mir die Beifahrertür seines Wagens auf. Zögernd steige ich ein und als er ebenfalls einsteigt und den Motor startet, habe ich das Gefühl ihm eine Erklärung zu schulden.

September - KEIN TAG OHNE DICHWo Geschichten leben. Entdecke jetzt