Endlich Zuhause

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"Vorsichtig ja", höre ich Sam hinter mir sagen. Ich verdrehe die Augen, denn ich komme mir wie ein Baby vor, oder eine Puppe die aus Glas besteht. Aber ich ein Mensch und keine Glaspuppe. Auch wenn ich es süss von ihm finde, so frage ich mich, weshalb er mich so in Watte packen möchte. Klar ich wurde zusammengeschlagen und ich bin in einem sehr fraglichen Zustand, aber ich bin doch nicht aus Zucker. Das er mich die Treppen raufgetragen hat, habe ich ja noch verstanden, aber die Tür aufzuschliessen sollte ich schon selbst hinkriegen. 

Als die Tür endlich aufgeht und ich einen Schritt in den Flur mache, höre ich Sam bereits zittrig ausatmen. Das er so ängstlich ist, ist irgendwie doch niedlich. Also drehe ich mich langsam zu ihm um und lächle ihn an. "Danke fürs tragen", sage ich deshalb und als ich sehe wie er es erwidert, breitet sich ein warmes Gefühl in meinem Magen aus. Ganz so wie früher, wie damals vor einem Jahr, als...

"Am besten legst du dich erst einmal hin", reisst er mich aus meinen Gedanken. Blinzelnd schaue ich ihn an und nicke anschliessend langsam. Er ergreift meine Hand und stützt mich, während wir langsam durch die Küche ins Wohnzimmer gehen. Nachdem ich mich so langsam und vorsichtig wie ich kann auf die Couch gesetzt habe, atme ich tief durch. "Ich fühle mich als wäre ich neunzig", brumme ich vor mich hin. Ich hasse es so eingeschränkt zu sein, egal was ich mache es kostet auf einmal doppelt, wenn nicht sogar dreifach so viel Kraft.

Ich hasse es krank zu sein. 

"Das geht vorbei. Mit viel Ruhe und einer intensiven Pflege bist du schnell wieder auf den Beinen", meint Sam. Er sieht mich die ganze Zeit an, doch es fühlt sich nicht unangenehm an. Im Gegenteil, es fühlt sich sogar ziemlich gut an. Seine blauen Augen strahlen eine Wärme und eine Fürsorge aus, die ich wirklich gebrauchen kann. Wenigstens sieht er mich nicht mitleidig an, denn Mitleid ist das letzte was ich gebrauchen kann. Seltsam, dass mir das jetzt in den Sinn kommt, denn Sam hat das letztes Jahr zu mir gesagt. Als er mir über seine Alpträume erzählt hat. 

"Möchtest du einen Tee?", fragt er und reisst mich erneut aus meinen Gedanken. "Gerne." Lächelnd sehe ich ihm zu, wie er in die Küche geht und höre wie er das Wasser aufsetzt und die Schränke öffnet, um den Tee zu finden. Ich will ihm helfen, doch als ich selbst aufstehen möchte, gelingt mir das nicht. Ganz egal wie viel ich es versuche, es funktioniert nicht. "Verdammte Scheisse!", zische ich und schlage mit der Hand auf die Couch. Das dumpfe Geräusch hat Sam aufgeschreckt, denn als er mit schnellen Schritten ins Wohnzimmer stürmt, spüre ich wie er mich mit grossen Augen ansieht. "Ist alles in Ordnung?", fragt er. 

Ich senke den Blick, damit er die Tränen nicht sieht, die sich in meinen Augen sammeln. Doch als ich aufschluchze, ist er in wenigen Sekunden bei mir und hebt mein Kinn sanft an, damit ich ihn ansehen muss. "Hey, was ist los?", fragt er leise. Seine Stimme klingt beruhigend und einlullend. Doch die Frustration, die Wut und die Ohnmacht nichts tun zu können, nur, weil mich so ein Scheisskerl zusammengeschlagen hat, bringt mich dazu zu weinen. Denn es ist das einzige was ich tun kann.

Machtlos zu sein ist scheisse!

"Ich will das alles nicht. Was habe ich denn getan um das zu verdienen?", schniefe ich und zeige auf meine Verletzungen. Mein Gesicht ist immer noch geschwollen und sieht aus, als wäre ich unter einen LKW geraten. "Sag doch nicht so was. Du hast nicht getan, um so etwas zu verdienen. Du warst einfach zur falschen Zeit, am falschen Ort. Das ist zwar bitter, aber es hat nichts mit dir zu tun. Denn du bist perfekt, alles an dir ist perfekt. Also bitte sag so etwas nie wieder. Ja?", seine sanfte Stimme beruhigt mich und trotz der Intensität seiner Worte, will ich nicht das er aufhört. Also lächle ich schwach, doch bevor er noch etwas sagen kann, beginnt die Teekanne zu pfeifen. Sam steht auf und verschwindet wieder in der Küche. Ich wische mir derweil die Tränen vom Gesicht und warte darauf das er den Tee bringt. 

September - KEIN TAG OHNE DICHWo Geschichten leben. Entdecke jetzt