Keine Engel || 2

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"Wenn du alles hast und meine Wünsche erfüllen kannst, bist du dann sowas wie ein Engel?"

Die dicke, bunte Frau lachte.

"Nein, nein Schätzchen, also ein Engel bin ich ganz sicher nicht! Ich hab schon so viel falsch gemacht in meinem Leben... Und sowas passiert Engeln doch nicht, oder?"

***

"Was hast du denn Falsch gemacht?", fragte das kleine Mädchen neugierig.

Die Frau seufzte. "Das verstehst du nicht. Du bist noch viel zu Jung, meine Kleine. Genieße dein Leben solange du noch die Möglichkeit dazu hast... Also, möchtest du jetzt etwas kaufen?"

Henrietta Heinrichs hatte sich diesen Laden damals gekauft, als sie sich von ihrem Mann geschieden hatte und sie etwas bräuchte, um sich und ihren Sohn ernähren zu können. Seitdem lief das Geschäft ganz gut, aber mit Fridolin, ihrem Sohn kam sie überhaupt nicht zurecht. Sie vermutete, dass er die Scheidung Seiner Eltern nicht verkraftet hatte. Vor kurzem war er mit blauem Irokesen-Haarschnitt nach Hause gekommen und er hing nur noch auf der Straße mit seinen zwielichtigen Kumpels ab. Henrietta vermutete, dass er trank und sogar Drogen nahm - und das machte ihr als Mutter riesige Schuldgefühle.

"Alles in Ordnung mit dir? Du starrst so traurig in die Ferne.", holte das Mädchen Henrietta Heinrichs wieder aus ihren Gedanken.

"Ja... Ja ich dachte eben nur an meinen Sohn Fridolin. ", antwortete Henrietta mit einem leisen Seufzen. Mit geübtem Handgriff stapelte sie die Pralinen vor ihr zu einer kleinen Pyramide auf und drückte die letzte Praline dem kleinen Mädchen in die Hand.

"Dankeschön. Wo ist denn dein Sohn? Will er nicht kommen und mit mir spielen?"

"Nein, er ist nicht Zuhause. Er möchte nicht mehr spielen. Und nicht mehr mit mir reden oder etwas mit mir unternehmen... ", fügte die dicke Frau mit traurigem Blick hinzu.

Das Mädchen überlegte kurz.

"Bestimmt hat er dich trotzdem lieb. Du bist so nett! Vielleicht geht es ihm gerade nur nicht gut und er braucht Hilfe. Aber er traut sich nicht es zuzugeben..."

Etwas erstaunt sah Henrietta das kleine Mädchen an. "Du bist sehr klug für dein Alter, das muss man schom sagen! Du hast Recht, ich glaube etwas belastet ihn. Gleich wenn er heimkommt, werde ich mit ihm sprechen. Danke, meine Liebe, möchtest du noch ein Bonbon?"

Doch das kleine Mädchen stand schon lächend im Türrahmen. "Nein, danke. Tschüss! Und viel Glück mit deinem Sohn!"

***

"Hey Jungs, seht ihr das auch? Die Kleine da drüben starrt uns schon die ganze Zeit an!"

Frido drehte seinen Kopf in die Richtung, in die sein Kumpel zeigte.

"Na Frido, wolln wir mal sehen, ob du auch wirklich einer von uns bist... Geh zu der Kleinen und schau ob sie Geld dabei hat. Nimm es ihr ab, wenn Ja und wenn nicht, bring sie her und wir schauen was wir mit ihr machen können..."

Frido schluckte. Den reichen Geschäftsmännern und rotznäsigen Muttersöhnchen mit ihren Rolex-Uhren und Nike-Schuhen das Geld zu stehlen, war eine Sache, aber ein kleines, unschuldiges Mädchen zu beklauen, das war etwas ganz anderes...

Trotzdem stand er auf und ging zu ihr herüber.

"He, du! Was willst du hier?", fragte er ruppig und fuhr über seinen Iro.

"Hallo. Ich habe mich gefragt, ob ihr wohl Engel seid."

"Engel?", lachte Frido ohne Freude in der Stimme, "Eher das Gegenteil. Und denkt ein kleines Mädchen wie du nicht eher an Feen und Prinzessinen als Engel?"

Das Mädchen lächelte. "Ich nicht", sagte sie, "Meine Mama sagt ich bin anders"

"Anders, Hmm ja. So würde meine Mama mich auch bezeichnen... Hast du eigentlich Geld dabei? Kann ich es mal sehen? Dann könnte ich dir ein Eis kaufen."

Ehrlich gesagt fand Frido die Idee ziemlich blöd. Ein kleines Mädchen wie sie hatte sicher nicht viel Geld bei sich!

"Ja aber ich will kein Eis. Ich glaube nicht, dass du mir mein Geld zurückgeben würdest, wenn ich es dir gäbe." In ihren Augen erkannte Frido eine Intelligenz, die nicht normal war für ein so junges Kind.

"Hmm ja, du hast wohl Recht. Äh, willst du dich... Hmm... Vielleicht zu mir und meinen Kumpels setzen?"

Die Kleine schüttelte den Kopf. "Lieber nicht. Aber weißt du was? Ich schenke dir mein Geld. Du kannst es haben weil ich es nicht brauche. Aber gib es lieber nicht deinen Freunden. Du könnest dafür ein Geschenk für deine Mama kaufen. Bald ist doch Muttertag!"

Verwundert sah Frido das Mädchen an. Doch bevor er noch etwas antworten konnte, hatte sie ihm schon ein paar Geldscheine in die Hand gedrückt und war davongerannt.

***

Die Sonne schien unverschämt warm und fröhlich auf den kleinen, unscheinbaren Stein herunter. Um den Stein waren unzählbar viele Blumen verstreut und die Menschen hatten sich um den Stein versammelt.

Ein Mann mit schwarzem Umhang sprach: "...Und auch wenn sie so früh von uns gehen musste, in unseren Herzen wird sie weiterleben."

Henrietta Heinrichs schnäuzte fest in ihr gepunktetes Taschentuch. Der arme alte Mann sah traurig zu Boden. Auch wenn er sie nur kurz gekannt hatte, hatte sie ihm doch wärme und Freude in sein kaltes Leben gebracht. Dank ihr wohmte er jetzt nicht mehr auf der Straße, sondern teilte sich eine Wohnung mit dem großen Apotheker Kai Möllemann. Dieser musste immer wieder blinzeln, so traurig war er.

Henrietta Heinrichs schnäuzte noch einmal und sagte dann mit belegter Stimme: "Sie war voller Lebensfreude!"

Sie hatte ihren Rat befolgt und ihr Sohn Fridolin hatte endlich ehrlich mit ihr geredet. Er ging jetzt einmal die Woche zu einem Therapeuten und es ging ihm soweit wieder gut.

"Die guten Sterben früh, so heißt es", flüsterte Kai Möllemann.

"Sie war so ein liebes Kind", sagte der alte Mann.

Und Frido murmelte: "Nein, sie war ein wahrer Engel."

No Angels [Kurzgeschichten]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt