Schwimm (nicht) gegen den Strom

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Seine Hose war voller Löcher, an den falschen Stellen. Die Schuhe bis zur Sohle durchgetreten und die skelettartigen Hände tief in den Hosentaschen vergraben, zu schwachen Fäusten geballt.

Die letzte Kraft brauchte er auf, um einen Fuß schleppend vor den anderen zu setzen.

Sein T-Shirt war ihm mindestend drei Nummern zu groß, den Umfang des Körpers darunter konnte man nur schemenhaft erahnen. Bei jedem Schritt spürte er den Schmerz in Herz und Lunge, als würde jemand auf seiner Brust sitzen. Unbehaglich griff er sich an den Hals, um sich zu vergewissern, dass da auch nichts war, das ihm die Kehle zuschnürte, obwohl es sich so anfühlte.

Der Weg war ihm in Erinnerung geblieben, während so viele andere Erinnerungen unwiederbringlich aus seinem Gehirn gelöscht worden waren.

Auch sein Kopf schmerzte ihn. Die düsteren Gedanken hielten ihn vom schlafen ab, deshalb verbrachte er jede Nacht zusammengekauert in einer dunklen Hausecke, die Arme fest um die Beine geschlungen, den Kopf auf den Knien gelegt. So schaukelte er leicht hin und her, mit brüchiger Stimme ein Schlaflied flüsternd, um die Geister fernzuhalten.

Auch jetzt war es dunkel. Sogar der Mond verbarg sein Angesicht vor ihm. Nur die Schwärze der Nacht war um ihn.

Sein Gesicht war so bleich, dass man es auch jetzt schwach erkennen konnte. Die Augen eingefallen und die Mundwinkel nach unten gezogen, die Haut zerstört von den Drogen. Er spürte, wie das Leben ihn langsam verließ.

Wo war die Zukunft, von der alle redeten? Er glaubte schon lange nicht mehr, dass so etwas überhaupt existiert. Alle Hoffnung hatte ihn verlassen und er wusste, dass das hier die letzten Schritte waren, die er gehen würde.

Dann war er angekommen.

Der Fluss war breit und gefährlich, das Wasser von dunklen Grau- und Brauntönen.

Nun hatte es wieder angefangen zu regnen. Klischee.

Er hatte es eilig. Wollte endlich weg von diesem menschenverseuchten Planeten, der ihm all die Jahre nichts als Leid zugefügt hatte.

Er fackelte nicht lange und sprang einfach. Das letzte was man von ihm sah, waren die Schemen seiner grünen Jacke, dann stiegen nur noch ein paar Luftblasen auf.

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"Warum nur hat er das getan?", seine Mutter vergrub schluchzend ihr Gesicht an der Schulter ihres Mannes.

"Wann haben Sie ihn denn das letzte Mal gesehn?", fragte der Polizist mit einem Blick auf das Protokoll in seiner Hand, darauf bedacht, den Fall nicht zu nah an sich heranzulassen.

"Das ist schon etwa ein Jahr her. Ach wissen Sie" schniefte sie, "Er stand sich immer nur selbst im Weg. War der Meinung, alle Menschen seien böse und wollten ihm wehtun. Er sah immer nur das halb leere Glas. Vor allem sah er nicht die Liebe. Nicht unsere Liebe, nicht die seiner Freunde und nicht die Liebe, die in jedem Geschöpf auf dieser Welt zu erkennen ist. Wieso nur musste alles so kommen?"

Ratlos blickte der Polizist zu dem Ehepaar, bevor er sich hastig verabschiedete und zurück zu seinem Wagen lief. Was gingen ihn schon die Probleme dieser Menschen an? Er hatte hier schließlich nur seinen Job zu tun.

No Angels [Kurzgeschichten]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt