Systemfehler

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Ich weiß nicht was soll es bedeuten,
dass ich so traurig bin?
Ein Märchen aus alten Zeiten,
das kommt mir nicht aus dem Sinn...

Interpretiere das Gedicht von Heinrich Heine. Achte dabei besonders auf das lyrische Ich und phanopoetische Ausdrucksmittel, sowie die Stilhaltung.

Die junge Studentin las die Anweisung zum dritten Mal durch. Doch sie machte immer noch so wenig Sinn wie beim ersten Mal. Es war hoffnungslos. Claire hatte ein Blackout.

Erstaunlich, das Menschliche Gehirn. Von dem Moment seiner Entstehung an Arbeitet es ununterbrochen und hört nur auf, wenn man Klausuren schreibt.

Claire sah aus dem Fenster.
Ich weiß nicht was soll es bedeuten...

Es war früh am Morgen und der Himmel begann langsam, sich rosarot zu färben. Die Bäume und Häuser zeichneten sich schwarz vom Morgenhimmel ab.

Der Stift in ihrer Hand zitterte. Was sollte sie jetzt nur machen? Das letzte, was sie jetzt noch gebrauchen konnte, war diese wichtige Arbeit zu verhauen, hatte sie nicht schon genug Stress in ihrem Leben.
Dass ich so traurig bin...

Sie hatte ihr Leben so satt. Nicht das Leben an sich, sie hatte nicht vor, ihr Leben zu beenden. Aber dieses Leben, dass sie gerade führte, das stand ihr schon bis zum Hals. Es war unerträglich.

...Ein Märchen aus alten Zeiten, das kommt mir nicht aus dem Sinn...

Jeden Tag aufstehen, zur Uni gehen, Miete bezahlen, Smalltalk halten, sich dem System beugen. Diese Zwanghaftigkeit machte sie einfach fertig. Wann wurde dieses Leben, dieses Was-auch-immer-das-ist zu ihrem Leben? So wie Claire es gerne leben würde, so wie sie es sich immer erträumt hatte?

Ein Leben, in dem die Regeln nicht von irgendwelchen anderen Menschen festgelegt wurden?

...Der Schiffer im kleinen Schiffe ergreift es mit wildem Weh...

Denn wenn sie sich für immer in dieser festgetretenen Bahn fortbewegen musste, in der sie sich gerade befand, würde sie dabei irgendwann eingehen. Alles würde kalt und grau werden.

Sie starrte das leere Blatt an, das sie mit seiner weißen Unbeschriebenheit hämisch anzugrinsen schien.

Claire hatte genug. Sie wollte ausbrechen. Sich nicht mehr dem System beugen. Rebellieren. Frei sein. Nicht zulassen, dass die Farben verschwanden!

...Er schaut nicht die Felsenriffe, er schaut nur hinauf in die Höh...

Der Himmel wurde immer bunter. Rosarotorange. Claire erinnerte der Himmel an klares Wasser, in dem ein bunter  Pinsel ausgewaschen wird.

Sie nahm den Kugelschreiber in die Hand und setzte ihn aufs Papier.

Und wenn es nicht richtig war, und wenn es ihr später Probleme bereiten würde, wenn es gegen die Regeln war.

Claire war es egal. Und mit dem Satz, den sie aufs Blatt schrieb, wurde sie zu einem Systemfehler, einem schwarzen Schaf, einer Ausgestoßenen der Gesellschaft.

...Ich glaube, die Wellen verschlingen am Ende Schiffer und Kahn...

Claire nahm ihre Tasche nicht mit, als sie den Stuhl zurückschob und aufstand. Seelenruhig grüßte sie den Professor zum Abschied und verließ den Raum.

Claire sah die Verwunderten Blicke nicht, die man ihr hinterherwarf, denn sie drehte sich nicht um, als sie losging, auf den Horizont mit dem traumhaft schönen Sonnenaufgang zu. Er schien sie zu rufen und von geheimnisvollen, unentdeckten Orten zu erzählen. Claire spürte eine Sehnsucht nach der Welt da draußen in sich, die sie losrennen ließ, dem wahren Leben entgegen.

...Und das hat mit ihrem Singen
Die Lorelei getan.

Und den einzigen Hinweis, den sie in ihrem alten Leben auf ihr neues Leben hinterließ, stand auf dem Blatt in der Uni, dass der Professor fand. Doch Systemfehler werden bei uns totgeschwiegen, sie dürften gar nicht existieren.

Der Professor zerriss das Blatt. Und er lebte weiter in seiner festgetretenen Bahn, während Claire sich wie ein Schmetterling aus ihrem Kokon, ihrem alten Leben als Raupe befreite und in ein Leben ohne Grenzen davonflog.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Feb 19, 2015 ⏰

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