Kapitel 11

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Tiefe Dampfschwaden hingen an dem Morgen, an dem ich zum letzten Mal nach Hogwarts aufbrach, über dem Gleis 9 ¾. Mein Onkel und ich standen etwas abseits von den anderen, die gerade tränenreich von Molly verabschiedet und zerdrückt wurden. Alastor schloss mich kurz in die Arme. „Pass gut auf dich auf, Grace! Dass du genug lernen sollst, muss ich dir wahrscheinlich nicht sagen... Und kümmer dich gut um Guerrier!" Er warf einen Blick auf den Katzenkorb, den ich fest umklammert hielt. Meine kleine Kriegerin maunzte vergnügt, als sie ihren Namen hörte und verlagerte das Gewicht nach vorne, was mir das Halten des Katzenkorbes deutlich erschwerte. Typisch Katze. Das hatte ich inzwischen gelernt. Hermine, mit der ich mich jetzt echt gut verstand, hatte mir erzählt, dass das ihr Kater Krummbein das auch immer machte. Ich nickte. „Keine Sorge, Alastor! Ich werde an alles denken! Und ja, ich werde dir auch ab und zu schreiben - aber nur, wenn du dieses Jahr dran denkst zu antworten! Du weißt, wie ich es hasse, keine Antworten auf Briefe zu bekommen und du vergisst es besonders gerne!" Mein Onkel nickte und wuschelte mir noch einmal durch die Haare. „Du solltest einsteigen. Sonst bekommst du kein freies Abteil mehr." Ich nickte zustimmend und umarmte ihn noch ein letztes Mal.

Während ich mich umdrehte, atmete ich tief durch. Mein letztes Jahr in Hogwarts... In meinem Bauch kribbelte es. Ich war nervös. Schrecklich nervös. Und ich hatte ein bisschen Angst. Davor, was mich dieses Schuljahr erwarten würde. Vor allem, was die Weasleyzwillinge sich alles einfallen lassen würden, um mich zu quälen... Ich schluckte schwer und zog mit meiner freien Hand meinen Koffer hinter mir her. Ich warf noch einen letzten Blick über die Schulter zu meinem Onkel, der inzwischen bei den anderen stand. Die Weasleys, Hermine und Harry schienen es noch nicht für nötig zu halten, einzusteigen. Nun, mir sollte es recht sein... Ich könnte eh nicht mit Hermine in ein Abteil gehen. Schließlich würde sie sicher lieber die Zeit, die sie nicht mit Kontrollgängen auf den Gängen, was eine ihrer Pflichten als Vertrauensschülerin war, verbrachte, bei ihren anderen – älteren und besseren – Freunden genießen wollen.
Ich hievte meinen Koffer ohne allzu große Anstrengung – Übung macht den Meister – in den Zug. Während ich den Gang entlang lief, hielt ich Ausschau nach einem freien Abteil. Guerrier hielt es derweil anscheinend für notwendig in ihrem Katzenkorb eine kleine Tanzeinlage zu geben, was logischerweise nicht gerade hilfreich für mich war. Ehrlich gesagt war es verdammt anstrengend, den Korb samt Katze nicht einfach fallen zu lassen. Wieso hatte ich mir eigentlich so ein Energiebündel ausgesucht? Wobei... Eine Energie geladene Katze war besser als eine, die die ganze Zeit nur schlief und fraß...

Nach ungefähr zwei Minuten hatte ich schon ein freies Abteil gefunden. Ich stieß die Tür auf, stellte Guerrier in ihrem Katzenkorb auf einem Sitz ab und verfrachtete den Koffer auf der Gepäckablage. Danach ließ ich mich selbst auf einen der Sitze fallen und ließ mein Katzenbaby aus ihrem Korb, woraufhin sie auf meinen Schoß sprang und sich dort zusammenrollte. Sie begann zu schnurren, als ich anfing sie zu streicheln, während ich aus dem Fenster blickte. Nach vielleicht drei Minuten fuhr die scharlachrote Dampflock mit einem Ruck an. Sie nahm immer mehr an Fahrt auf. Ich sank tief in den gepolsterten Sitz zurück und schloss die Augen. Ich hatte gestern Abend das Packen natürlich bis zur letzten Minute aufgeschoben, weshalb ich es schließlich erst nach Mitternacht erledigt hatte. Und ich wurde heute Morgen um sieben Uhr von Molly aus dem Bett gezerrt... Also war es wahrscheinlich nachvollziehbar, dass ich nicht besonders ausgeschlafen war.

Plötzlich öffnete sich mit einem leisen Quietschen die Abteiltür. Sofort riss ich die Augen auf und setzte mich ruckartig auf, was Guerrier mit einem genervten Laut, halb Maunzen halb Fauchen, quittierte. Vor mir stand ein junger Mann aus meinem Jahrgang. Er war dunkelhäutig und schwarze Rastalocken umrahmten sein Gesicht mit den vollen, zu einem verschmitzten Grinsen verzogenen Lippen, den hohen Wangenknochen, den dunkelbraunen, leuchtenden Augen und der geraden, etwas breiteren Nase. Ich erkannte ihn sofort – was auch nicht gerade ein Kunststück war. Vor mir stand Lee Jordan, der beste Freund meiner Peiniger. Ich musterte ihn mit unverhohlenen Misstrauen. Dieser ließ sich davon nicht stören, sondern hievte seinen Koffer neben meinen auf die Gepäckablage und ließ sich auf den Sitz mir gegenüber fallen. Ich verschränkte die Arme und blickte ihn weiterhin unverwandt an. Er erwiderte den Blick frech grinsend. Es entstanden einige Minuten der Stille, in denen nur das Rattern des Zuges zu hören war. Schließlich setzte ich zum Reden an, doch er ließ mich erst garnicht zu Wort kommen. „Wenn du jetzt vorhast, mich aufzufordern, dein Abteil zu verlassen, weil die Plätze reserviert sind, werde ich es dir nicht glauben. Denn wenn es so wäre, hättest du mich schon, als ich das Abteil betreten habe, sofort mit ein paar „liebreizenden" Ausdrücken raus gescheucht." Seltsamerweise war seine Stimme überhaupt nicht stichelnd oder boshaft. Sie war einfach nur... angenehm... Sie drückte Witz und Wärme aus. Ich öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Wahrscheinlich sah ich so aus, wie ein Fisch auf dem Trockenen. Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte. Denn er hatte recht. Woher kannte er mich eigentlich so gut, dass er das wusste? Okay, dumme Frage. Er war Weasley 1s und Weasley 2s bester Freund. Und mein Temperament war auch nicht wirklich ein Geheimnis...

„Was machst du hier?", brachte ich schließlich hervor. Ich hätte mich selbst dafür ohrfeigen können, dass meine Stimme nicht annähernd so entschlossen und genervt klang, wie ich es gerne gehabt hätte. Musste sie denn genau in diesem Moment ein Eigenleben entwickeln? „Ich habe keine Ahnung, wo Fred und George sind und das war das erste Abteil, wo noch Platz war. Und wo sich eine Person befunden hat, die mir sympathisch ist und die ich mag – auch wenn ich nicht weiß, ob das erwidert wird. Wahrscheinlich ist beides von dir aus eher unwahrscheinlich, was man dir aber auch überhaupt nicht verübeln kann." Seine Stimme war gut gelaunt wie immer. Aber bei dem letzten Satz hat sie einen ruhigen und bestimmten Ernst angenommen. Ich hatte wohl ausgesehen wie ein verirrtes Kaninchen, das überhaupt nichts mehr begriff – was ehrlich gesagt auch ziemlich meiner Gefühlslage entsprach. Lee Jordan lachte leise. Er sah mir direkt in die Augen, was mich unwillkürlich leicht erröten ließ. Ich war es nicht gewohnt – besonders nicht von einem Jungen in meinem Alter – so direkt angesehen zu werden. „Auch wenn Fred und George meine besten Freunde sind, heißt das nicht, dass ich alles, was die beiden tun, gut heiße und respektiere." Ich lief knallrot an und blickte beschämt zu Boden. Es schien, als hätte mich mein Gegenüber so gut wie vollständig durchschaut. Als ich schließlich wieder aufblickte – nachdem ich hoffentlich nicht mehr wie eine überreife Tomate aussah – sah er mich immer noch lächelnd an. Zaghaft erwiderte ich das Lächeln, woraufhin seines breiter wurde.
„Nun, es ist beruhigend zu wissen, dass ich dir nicht gänzlich unsympathisch sein kann, sonst hättest du mich wahrscheinlich schon längst zusammengeschrien. Und weißt du schon, was du nach der Schule machen willst?" Ich schüttelte den Kopf. Eigentlich wusste ich es schon. Aber ich hatte es nicht vor jemanden zu erzählen, der mir zwar ganz sympathisch war, dem ich allerdings aufgrund der Tatsache, dass wir uns vielleicht erst seit fünf Minuten richtig unterhielten – beziehungsweise er eher einen Monolog hielt – noch nicht vertraute. „Ich bin mir noch nicht sicher", redete mein Klassenkamerad sogleich weiter. „Ich wollte gerne ins Ministerium gehen, aber so wie es momentan dort abläuft, kriegen mich keine zehn Pferde dorthin! Eigentlich wollte ich in der Abteilung „Magische Spiele und Sportarten" anfangen... Na ja... Vielleicht werde ich Besenmacher. Oder Zauberstabmacher." Ich blickte ihn überrascht an, woraufhin er grinste. „Ja, du hast dich nicht verhört, Zauberstabmacher. Ich fand den Beruf schon immer sehr interessant! Ja, wahrscheinlich wird es Zauberstabmacher. Wenn es geht, werde ich natürlich bei Olivander in die Lehre gehen, er ist schließlich der beste! Vielleicht habe ich ja Glück..." Er redete unaufhörlich weiter. Ihn schien es nicht zu stören einen Monolog zu halten...
Ich fühlte mich erstaunlich wohl. Es tat mir auf einer gewissen Weise gut, nicht alleine zu sein, aber nicht reden zu müssen. Und die ganze Zeit von meinem Gegenüber zu getextet zu werden... In diesem Moment stellte ich fest, dass ich Lee Jordan mochte. Wirklich mochte. Obwohl er der beste Freund von den Chaoszwillingen war. Er war offen, freundlich, gut gelaunt, witzig... Vielleicht hatte ich ja jetzt noch einen Freund gefunden... Wenn er sich in Hogwarts mir gegenüber wegen seinen beiden besten Freunden nicht änderte. Dieser Sommer war... überraschend für mich gewesen. Ich hatte drei Freunde – meine ersten überhaupt – gefunden! Hermine Granger, Oliver Wood und Lee Jordan.


GraceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt