Jump

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Jisoo nimmt keinen der Menschen wahr, an denen sie vorbeihastet.
Auch nicht ihn.
Auch bemerkt sie nicht, wie er bei ihrem Anblick hastig in die Richtung rennt, aus der sie gerade kommt.

Sie will es einfach nur noch hinter sich bringen. Die Erinnerungen die bei ihrem Besuch der Wohnung wieder ans Licht gekrochen kamen, setzen ihr mehr zu, als sie befürchtet hatte.

Mehr, als sie jetzt verkraften kann.

Es ist nicht mehr weit. Die Strecke ist ihr so bekannt, wie der Weg von ihrer Zelle zu den Behandlungszimmern. Und den ist sie immerhin zwei Jahre lang jeden Tag mehrmals gelaufen.
Anfangs noch optimistisch.
Enthusiastisch, so schnell wie möglich wieder entlassen zu werden. Mit der Zeit wurden ihre Schritte dann schleppender.
Langsamer, trauriger, kraftloser.
Da war einfach kein Antrieb mehr gewesen. Keinen Grund, diese Anstalt zu verlassen.

Ihr Tempo verschnellert sich.
Sie rennt jetzt.
Es ist bereits fast dunkel. Doch das Schicksal gewehrt ihr noch die Erfüllung ihres letzten Wunsches. Der Regen stoppt urplötzlich.
Als hätte jemand einen Hahn zugedreht.
Und während auf der Ostseite der Stadt langsam der Mond den Himmel erklimmt, senkt die Sonne im Westen ihre letzten Strahlen über die Gebäude.
Ein Sonnenuntergang, wie man in auf Leinwänden findet.
Ein leuchtendes Schauspiel von Lila - und Blautönen, die sanft in ein gesättigtes Orangerote überschwappen.

Jisoo stoppt.
Vor ihr liegt die Banpo Brücke.
Der Han-Fluss schlägt seine Wassermassen stürmisch gegen die Betonpfeiler und die Wasserfälle, die zu beiden Seiten der Brücke in den Fluss stürzen, leuchten in allen Farben des Regenbogens.
Jisoo ist schon immer von diesem atemberaubenden Bauwerk beeindruckt gewesen. Es ist definitiv mit eines der schönsten Dinge, die Seoul zu bieten hat, und damit auch eines der schönsten Dinge, die die Menschheit je erbaut hat, wie sie findet und das liegt tatsächlich nicht ganz allein an all den schönen Stunden, die sie mit Jennie hier verbracht hat.

Ein paar vereinzelte Sterne lassen sich am Himmel ausmachen.
Helle Sprenkel, die versuchen mit aller Kraft, die das Universum ihnen geben kann, die unzähligen Lichter der Stadt zu übertrumpfen. Ein Kampf, den sie niemals würden gewinnen können.
Ein hoffnungsloser Kraftaufwand.

Jisoo lehnt sich an das nasse Stahlgeländer und hebt ihren Blick in den Nachthimmel. Auch der Mond gibt heute sein Bestes.
Voll und kräftig ragt er über die Häuser und Jisoo hat den Eindruck, das selbst die Riesen des Universums ihr Ende kommen sehen und ihr eine letzte Ehre erweisen. Dieser Gedanke verleiht Jisoo eine gewisse Kraft, die ihr Innerstes erfüllt. Gleichzeitig beschleicht sie ein reumütiges Gefühl.
Plötzlich wünscht sie, sie hätte die schönen Dinge des Lebens mehr ausgekostet.
Aber jetzt ist es zu spät.

Sie dreht sich um, das Geländer fest umklammert und schwingt sich geschmeidig hinüber. Ihre Füße treffen nur knapp auf dem überstehenden Stahlpfosten auf.
Einen kurzen Moment befällt sie die Angst, zu fallen.
Und dann ist der Moment vorüber.

Ihre Augen suchen die Stelle, an der der Fluss in die Unendlichkeit des Himmels übergeht. Es macht den Eindruck, als würde die Sonne in den schwarzen Wassermassen ertrinken.
Als rufe sie nach Hilfe, schickt sie ihr Licht in den Himmel.
Doch niemand hört sie.

Jisoo muss traurig lächeln.
Ihren Hilfeschrei hat auch niemand gehört. Oder hatte sie überhaupt nach Hilfe verlangt?

Was auch immer sie getan, oder eben nicht getan hatte, ändern kann sie es jetzt nicht mehr.

Sie lässt sich vorsichtig an den nassen Stahlstreben hinabsinken, auf die schmale Kante und lässt die Beine baumeln.
Mitten über dem schäumenden Fluss.
Der Regen hat das Metall rutschig gemacht. Eine falsche Bewegung und sie würde abrutschen.

Der Wind reißt an ihrem Haar und die wehenden Strähnen machen den Eindruck, als würden sie Jisoo dazu anspornen wollen, sich jetzt einfach fallen zu lassen.

Dann wäre alles vorbei.
Die reißenden Fluten würden sie in Sekundenschnelle unter die Wasseroberfläche zerren.
Da wäre jeder Widerstand unnötig aufgebrachte Kraft.
Vielleicht hat sie Glück und die Wellen schlagen sie direkt gegen eine der Stützen. Dann wäre es noch schneller aus mit ihrem Leben.
Oder dem, was davon übrig ist.
Leben lässt sich ihre erbärmliche Existenz ja wohl kaum nennen.

Jisoo schließt die Augen.
Aufmerksam lauscht sie in die Nacht hinein. Da ist das Krachen, wenn sich die Wellen an den Brückenbeinen brechen. Die etlichen Geräusche Seoul's Nachtleben prasseln auf sie ein.
Weit entferntes Stimmengewirr.
Aufgebrachtes Hupen, gestresster Autofahrer.

Ein Auto rast unmittelbar hinter ihr durch eine Pfütze.
Jisoo nimmt war, wie das dreckige Wasser unter den Reifen in die Höhe schießt.
Das ist alles völlig normal.
Ein üblicher Abend in Korea's Hauptstadt.
Ein Abend, wie jeder andere auch.
Nichts unverändert.
Und so wird es auch sein, nachdem sie gesprungen ist.
Nichts wird sich an der alltäglichen Hektik ändern.
Für jeden einzelnen in dieser Stadt wird das Leben weitergehen.
Jisoo ist nur ein so kleiner Teil dieser Stadt, ihr Verschwinden wird nicht auffallen. Man wird ihre Leiche wahrscheinlich sowieso niemals finden.
Alles was an sie erinnern wird, ist ein kleines, mit ihren einsamen Gedanken vollgeschriebenes, Notizbuch.

Ein Notizbuch in den Händen des Mädchens, das ihr einmal mit erhitztem Gesicht ihre Liebe auf dem Schulflur gestanden hatte.
Sie weiß nicht wieso, aber zum ersten Mal seit zwei Jahren findet sich auf Jisoo's Gesicht ein echtes Lächeln.
Ein wirklich, ehrliches Lächeln.

Sie hört auf, sich an das Geländer zu klammern, stützt sich ab und spannt alle Muskeln an.
Wie sie dieses Leben hasst.
Es ist so lächerlich, sie könnte anfangen zu lachen.

Der kalte Wind macht sie taub.

Der Wind oder der Hass, der sich in all den Wochen in ihr angestaut hat, und jetzt Stück für Stück aus ihr herausbricht.

Vielleicht auch Beides.
Hass auf Alles und Jeden, der ihr Leben kaputt gemacht und zerstört hat.
Hass auf diese gottverdammte Anstalt, und ihre Ärzte, die sich nicht damit zufrieden gegeben hatten, bloß zwei Jahre ihres Lebens zur Hölle zu machen.
Hass auf ihre Eltern und all die Mitschüler, mit ihren verurteilenden Blicken.

Aber vor allem, richtet sich ihre Wut auf sie.

Jennie.

Ihre erste, große Liebe.
Das Mädchen ihrer Träume.
Der Mensch, der ihr mehr bedeutet als alles andere, das sie je besessen hatte.
Aber auch die Person die ihr Herz gestohlen und anschließend achtlos hatte fallen lassen.

Leere breitet sich in ihr aus, erfüllt jeden Teil ihres Körpers, jeden Nerv.

Und dann lässt sie los.

Lässt alle Kraft aus ihren Muskeln weichen, schließt die Augen, bereit zu fallen.

Der Wind heult, laut, doch nicht laut genug.

Sie übertönt es.

Ihre Schritte, ihr Schluchzen und der Schrei der durch die Nacht donnert.
Ihre helle Stimme, sonst klar und beruhigend, jetzt dunkel und verzweifelt.
Ihr Ruf sprüht Emotionen.

Nur ein Wort.

Nur ein Name.

Er fällt in die Nacht.
Kehrt jedes bisschen Ruhe in sein Gegenteil.

Eine letzte Bitte, um sie stoppen.

„Jisoo!"

Dear   (GirlxGirl)  [Jensoo FF]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt