Last thing to do

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Zaghaft klappt Jisoo den schwarzen Ledereinband des Notizheftes zu.
Das Notizheft, in dem sie so viele Gedanken und Gefühle niedergeschrieben hat.

Sie kann nicht verhindern, dass vereinzelte Tränen auf den Einband tropfen. All die Wochen über hat sie sich zusammengerissen, stets ein Lächeln auf den Lippen getragen und jede Frage nach ihrem Befinden mit
„Ja. Mir geht es gut." beantwortet. Wobei diese Frage nur äußert selten gestellt wurde.
Aber jetzt konnte sie einfach nicht mehr stark sein.
Sie wollte einfach nicht mehr glücklich sein.

Für Jisoo war schon immer klar gewesen, dass, wenn sie ihr Leben jemals aus eigenen Dingen beenden wollen sollte, dann würde sie springen.
Noch ein allerletztes Mal wollte sie sich wirklich frei fühlen, bevor sie letztendlich für immer in Dunkelheit verschwinden und endgültig vergessen werden würde.

Hastig wischt sie sich mit dem Ärmel ihres Pullovers die salzige Tränenspur von den Wangen. Der Pullover gehört eigentlich Jennie. Irgendwann muss sie ihn wohl bei Jisoo vergessen haben. Sonderlich lange kann es nicht her sein, er trägt noch immer ihren typischen Eigengeruch.
Ihr Geruch hatte schon immer eine beruhigende Wirkung auf Jisoo gehabt. Wahrscheinlich hat sie sich auch deshalb dafür entschieden, ihn zu tragen, wenn sie sich endlich erlöste.
Als zöge sie die nötige Kraft aus dem hellen Stoff, vergräbt sie ihr Gesicht in dem Pullover und atmet einmal tief ein.
Sie würde das schaffen.
Sie musste.

Ihre letzte Kraft steckt sie in ein letztes Lächeln.
Es ist falsch.
Sowie jedes Lächeln, dass sie in den vergangenen Monaten gelächelt hatte.

Leise seufzt Jisoo, als sie noch einen kurzen Blick auf den schlichten Einband wirft. Dann schiebt sie das dünne Buch unter den Pullover. Es sollte nicht nass werden.
Draußen regnet es in Strömen.
Eigentlich sollte es Jisoo egal sein. Aber im Geheimen hofft sie, dass es doch noch aufklaren würde.
Sie liebte Sonnenuntergänge und hätte absolut nichts dagegen, an ihrem letzten Abend noch einmal einen zu sehen zu bekommen.
Was soll's.
Demonstrativ zuckt Jisoo mit den Schultern. Sie braucht keine malerischen Farbenspiele am Himmel, wenn sie ihr letztes Ziel erfüllt.
Und das würde sie jetzt tun.
Das ist das Wichtigste.
Mit einem falschen Lächeln im Gesicht und die Arme, um den eigenen Körper geschlungen verlässt sie die Wohnung.

Auf dem Weg, zu dem kleinen hellen Block, in dem sie so gerne ihre Zeit verbracht hatte.
In der kleinen Drei-Zimmer-Wohnung.
Auf dem Sofa, auf einem der beiden bunten Barhocker an der hölzernen Theke, auf dem meist hell bezogenen Bett, ganz egal wo, immer hatte sie Jennie um sich gehabt. Sie konnte sie im Arm halten und küssen, sie waren ungestört gewesen, wie in ihrer eigenen kleinen Welt, in die niemand sonst Einblick hatte.

Jisoo ist sich ziemlich sicher, dass Jennie noch immer dort wohnt. Sie ist nie der Typ Mädchen gewesen, der Dinge, die er liebt wegen unschönen Erinnerungen aufgibt.

Als Jisoo an dem Wohnblock ankommt ist sie bereits bis auf die Knochen durchnässt, die Kälte betäubt ihren Körper und sie genießt es.

Ein Zittern durchfährt ihren Körper, als sie zu den Fenstern der Wohnung hochblickt. Die Vorhänge sind zugezogen worden und erwecken einen verlassenen Eindruck.

Was, wenn Jennie doch nicht mehr hier wohnt?
Wenn die Wohnung unbewohnt ist, und sie das Buch niemals findet?
Oder schlimmer, was, wenn jemand anderes nun in der hellen Wohnung lebt und das Buch findet?

Jisoo streicht sich die lila Strähnen aus dem Gesicht, die im nassen Zustand beinahe schwarz wirken.

Ein leises Seufzen, dann schreitet sie zittrig die Treppen ins zweite Stockwerk hinauf.
Das Risiko muss sie eingehen.

Ein unangenehmes Stechen zieht sich durch ihre Brust, als Jisoo die blassblaue Eingangstür erblickt.
Augenblicklich verschleiern Tränen ihr Sichtfeld.
Ein trockener Blumenkranz schmückt die schlichte Tür.
Jennie liebt Blumen.
Sie hatte noch nie eine Einzige auch nur braun werden lassen.

Jisoo unterdrückt ihr Schluchzen.
Schluckt es hinunter, zusammen mit ihrer Unsicherheit.
Wäre die Wohnung verlassen, hätte die Hausverwaltung den Kranz längst abgenommen.

Sie tritt einen Schritt nach Vorne.
Ringt mit sich.
Sie kann das.
Sie würde jetzt nicht einknicken.
Jennie verdient es, zu wissen, was sie angerichtet hat. Das schlechte Gewissen verschwindet augenblicklich.
Die Entscheidung ist richtig.

Jisoo macht noch zwei weitere Schritte. Ihr Griff um das dünne Buch ist fester, als sie es selbst erwartet hat. Vor der Tür liegt keine Fußmatte und auch sonst gibt es keinerlei Möglichkeiten, das Buch vor neugierigen Blicken der Nachbarn zu schützen.

Vorsichtig schiebt Jisoo die vertrockneten Pflanzenstängel auseinander und lehnt das Buch an die Tür, damit es nicht aus dem Kranz fällt.
Sie kann nur hoffen, dass Jennie die Erste sein wird, die Interesse für das Notizheft entwickelt.

Noch ein letzter Blick auf die Tür, dann dreht sie sich um, verlässt das gepflegte Gebäude und hastet hinaus in den kalten Regen.

Endlich.

Jetzt gibt es nichts mehr, was ihr Gewissen plagen könnte.

Jetzt kann sie frei sein.

Dear   (GirlxGirl)  [Jensoo FF]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt