Kapitel 4

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Erstickte Atemzüge schienen Clara aufgeweckt zu haben und die Welt schien sich seltsam in Kreisen zu bewegen. Sie japste nach Luft, doch alles was sie spüre konnte, war ihr vernebelter Kopf und das heiße Blut, das in ihn strömte. Sie war kurz davor wegzutreten, noch bevor sie wusste, wo sie sich eigentlich befand, da gelang schlagartig Sauerstoff in ihre Lungen und sie bekam Kopfschmerzen davon. Langsam, aber sicher fing sie an wieder klar sehen zu können. Es war vielleicht immer noch Nacht, doch Clara kam es vor, als wäre es nur noch düsterer geworden. Die Luft war auch ziemlich dünn, so dünn als...als befände sie sich in einem winzigen Raum. Sie hob ihre rechte Hand nach oben und stieß auf einen durchsichtigen Widerstand - es war Glas. Verwirrt griff sie wild um sich herum, doch es war, als wäre sie in einem gläsernen Sarg gefangen. Es war einfach unvermeidlich - sie bekam eine Panikattacke, wobei die knappe Luft es ihr nur noch schwerer machte. Ein Licht flackerte einige Male auf, ging aber sofort wieder aus. Claras Pupillen weiteten sich und ihre Muskeln zogen sich zusammen. Sie wollte versuchen das Glas zu zerschlagen, doch da schien sie wieder weniger Luft zu bekommen, bis der Raum tatsächlich luftleer war. Erneut kam die Luft wieder zurück, als Clara kurz davor war wegzutreten. "Wo ist Jeydon hin?", dachte sie. Sie wusste nicht, wo sie war und das machte sie nur noch panischer. Das Licht ging an. Geblendet von dem grellen, weißen Licht zuckte Clara zusammen. Als sie ihre Augen öffnete, sah sie wieder das Krankenhauszimmer, aus dem sie doch gerade erst geflohen war. Schon wieder leerte sich der Raum, bis er komplett luftleer war und füllte sich nach einer qualvollen Zeit wieder auf. Clara musterte hektisch den Glas-Raum, in dem sie lag. Keine Frage, sie war in einer Maschine gefangen. Sie drückte und donnerte mit ihren Fäusten dagegen, doch sie bekam es nicht auf. Ihre Platzangst quälte sie beinahe genauso, wie das Öffnen und Schließen der Luftzufuhr. Sie schrie um Hilfe, dämmerte einige Male weg, rang nach Luft und versuchte sich aus der Maschine zu befreien - doch vergebens.

Stunden vergingen, bis sich die Glastür endlich mit einem kalten, weißen Rauchstoß öffnete. Ohne zu zögern griff Clara mit ihren zittrigen Armen aus dem Gerät hinaus, hielt sich dabei nur wacker. Sie wusste nicht, ob sie überhaupt in der Lage war, aufzustehen nach dieser Tortur. Sie konnte sich nicht einmal aufsetzten. Jedoch hatte sie Angst davor, dass alles weiter gehen würde, also nahm sie all die übrig gebliebene Kraft zusammen, und zog sich mit einem sprungähnlichen Satz aus der seltsamen Liege und landete achtlos auf dem Boden. Dort blieb sie erschöpft liegen. Ihr ganzer Körper war kraftlos. Sie war ein einziges Wrack, das auf wundersame Weise überlebt hat.

Phase 1

Schwerelosigkeit. Das Wort flog wie ein Fremdwort in ihrem Kopf herum. Dieses Gefühl, das sie noch einen Tag zuvor empfand, war nun allemal verschwunden und ließ sie verwirrter zurück denn je. Alles was Clara jetzt spürte, war Angst, gefolgt von einer todesähnlichen Migräne. Noch vor einigen Tagen wäre ihr alles gleichgültig gewesen. Sie sah keinen Sinn mehr darin, weiter zu leben. Vor einigen Tagen hätte sie ihrem Leben, das ihr am Tag die Luft zum Atmen nahm und in der Nacht dem Kopf nicht ruhen ließ, ein Ende gesetzt. Doch genau jetzt, fühlt sie in der Leere ihrer Seele etwas, was ihr bei diesem Gedanken Schmerzen bereitete. Diesen Schmerzen folgten Gedanken. Diese Gedanken schmerzten ihrem Kopf noch mehr, als die Migräne es schon tat. Nach all dem kam ihr ein Verlangen auf. Dieses Verlangen konnte Clara jedoch nicht einschätzen, da sie vorher noch nie etwas Derartiges gespürt hatte. Es war, dem Anschein nach, etwas sehr nah Verbundenes an die Einsamkeit - nur, dass es noch viel stärker war. Sie dachte nach, doch fand kein Wort, dass dieses Gefühl; dieses Verlangen beschreiben könnte. Sie sah sich um. Das Zimmer, in dem sie sich befand, war nicht jenes, wo sie vor einigen Tagen aus dem Fenster blickte und sich fragte, ob sie den Sprung wagen solle. Es hatte keine Fenster und keine Türen. Sie war eingesperrt. Plötzlich wich alles an Farbe aus Claras Gesicht. Tränen begannen aus ihren Augen zu fließen und ihr Körper zitterte wie verrückt. Normaler Weise, würde sie jetzt aufgeben, doch etwas zog sie seelisch aus diesem Raum hinaus. Eine Verbindung, ein Ruf. Was auch immer es war, es war stärker als Clara und es drängte sie bis an die Wand, an der sie zu schlagen begann. Sie schrie und rief einen Namen, dessen Klang sie noch nie zuvor gehört hatte. Mit jedem Atemzug wurde sie panischer und mit jedem Schrei, schlug sie noch kräftiger auf die weiß geflieste Wand ein, die sich kein Millimeter zu rühren schien. Alles was Clara damit erreichte, waren blutige Fäuste und blaue Flecken. Sie war also eingesperrt - in einem Raum, wo sich nur eine Qualmaschine und verschlossener Metall-Safe befanden.

Nach einigen Stunden, die sich wie Tage anfühlten, starrte Clara verdutzt an die Decke, an der nur eine minimalistische, grell leuchtende Lampe hin. Sie dachte, wo eine Lampe ist, ist auch ein Schalter, also drehte sie sich nach links und rechts, bis sie den kleinen Knopf über ihrem Kopf entdeckte. Sie drückte drauf und augenblicklich ging das Licht aus. Es war stockduster. Sie drückte erneut auf den Knopf, sodass das Licht wieder anging. Erneut drückte sie drauf - das Licht ging aus. Noch einmal drückte sie - und das Licht ging an. Aus, An, Aus, An... so ging es immer weiter, bis auch Clara das Interesse daran verlor, wie eine Katze an ihrem Spielzeug, und sich auf den Boden fallen ließ. Sie verlor das Zeitgefühl; konnte nicht mehr zuordnen, ob es gerade Tag oder Nacht war. Das Gerät, welches sich immer noch mitten im Raum befand, machte Clara stetig Angst. Trotzdem trat sie näher, um dieses Sonderbare Etwas zu betrachten. Es sah wie ein Sarg aus, mit weißen Außenwänden, einer Glasverdeckung, einer stoffartigen Liegefläche und einem Gewirr aus bunten Kabeln, die allesamt im Boden verschwanden, als wären sie nur zu dem Zweck eingebaut worden, einem Menschen den gesunden Verstand zu rauben. Ein Schauer überfuhr Claras Rücken, als sie daran dachte, was ihr diese Anlage für Leid angetan hatte. Sie zuckte zurück, betrachtete ihre Lage erneut und kniff sich in ihren Arm. Es sei alles nur ein Traum, dachte sie. Aber das war es nicht. Um sich die Langeweile zu vertreiben, die ihr nach einigen Stunden untätigem rumsitzen und nachdenken aufkam, entschloss sie sich dazu, den Safe zu untersuchen. Als sie feststellte, dass sich dieser bis auf wenige Millimeter nicht öffnen ließ, gab sie auch das auf und versuchte, sich mit ihrer seltsamen Lage abzufinden. Ihr gelang es sogar, die Stille und Ruhe zu genießen, dass einfach mal nichts passierte; dass sie sich einfach mal nur mit sich selbst in einem Raum befand und nachdenken konnte.

Je mehr sie nachdachte, auf desto mehr Wissenslücken schien sie zu stoßen, denn jedes Mal, als sie versuchte sich in Erinnerung zu rufen, was geschah, bevor sie eines Tages in diesem Krankenhauszimmer aufgewacht war; was war, bevor sie mit dieser seltsamen Dame gewaltsam durch die Decken stieß oder wie es dazu kam, dass sie auf diesen einen Jungen Namens Jeydon traf, verstand sie umso weniger. Sie fand keine Zusammenhänge zwischen all diesen Ereignissen und wenn doch, dann ergaben diese gleich Null oder weniger Sinn. Aber wenn nicht genau das der Normalität entsprach, was dann? Sie wusste es nicht, hatte jedoch ein Gefühl, dass das alles nicht realistisch war. Zumindest nicht komplett. Ihre Gefühle wurden zunehmend zur Last, als sie dann doch auf einen Gedanken zurückkam, der ihr aus unklaren Gründen einen stechenden Herzsprung verursachte: Was wäre, wenn sie Jeydon nie wieder sehen würde? Unterbewusst war ihr klar, dass er ihr etwas bedeutete, obwohl er ihr eigentlich so fremd sein müsste. Doch als sie in diesem Moment an ihn dachte, spürte sie die Freiheit, die sie vor einigen Tagen noch hatte, damals, als sie am Ufer des Sees saß, unwissend, was in den kommenden Stunden auf sie warten würde.
„Damals", dachte sie. Es fühlte sich tatsächlich an, als wäre es schon eine Ewigkeit her. Sie spürte erneut die Sicherheit, die sie hatte, als die beiden an der Hütte ankamen, das weiche Atlanta Falcons Baumwoll-Shirt, welches sie in ihren Händen hielt, bevor sie es anzog. Allein diese paar Sekunden, in denen Clara ihre Augen verschlossen hielt und sich das Bild in Erinnerung rufte, machten, dass sie sich Zuhause fühlte, obwohl sie mit dem Wort „Zuhause" nicht sonderlich viel anfangen konnte. Bis jetzt zumindest, denn sie merkte, dass das Bild riss und in ein anderes Bild zu übergehen schien. Sie sah das zärtlich unschuldige Gesicht von einem Mädchen. Sie hatte lauter Sommersprossen, blonde Locken und strahlend blaue Augen. Sie sah sie auf einer grünen Wiese spielen, im Hintergrund ein Blockartiges Gebäude mit Balkons. "Du musst, fang mich doch!", rief ihr dieses Mädchen zu, welches höhstens sechs Jahren alt zu sein schien. Dann riss das Bild wieder und Clara sah für einen Moment ein Autowrack, welches in Flammen stand und das Mädchen, welches blutig auf einer Trage hinaustransportiert wurde. Dann brach diese Erinnerung ab. Clara stöhnte auf und verfiel in Tränen, als wäre sie kurz vorm ertrinken gewesen und hätte sich mit letzter Kraft noch an die Luft befördert.

Phase1: Verzweiflung

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