Kapitel 6

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TRIGGER WARNING: Enthält mit Suizid und Selbstverletzung verknüpfte Inhalte, bei hoher  (emotionaler) Sensibilität bitte nicht lesen! Danke.


Phase 3

Als Clara aufwachte, musste sie nicht lange nachdenken, wo sie sich befand. In ihrem kurzen, traumartigen Halbschlaf hat sie jede Sekunde den kalt befließten Boden und die stockstarren, undurchdringlichen Wände eng an ihrem Körper gespürt. Sie hätte nun gerne die Tageszeit erfahren, um sich zumindest ein wenig zu orientieren, aber stattdessen umwob sie weiterhin die sterile Isolation des Raumes, angehaucht mit Spuren von traumatischer Gewalt an den rot-braun befleckten Wänden. Da Claras Müdigkeit nicht wegzugehen schien, und sie bei weitem nicht mehr schlafen konnte, hatte sie viel Zeit, um über das Geschehen nachzudenken. Sie betrachtete ihre angebrannte Haut, die Blutflecken, den Lichtschalter, die Maschine. Sie analysierte jedes Geschehen, weiterhin in der Ecke kauernd und auf ihren Nägeln kauend. Ihr selbst ist es bisher nicht aufgefallen, dass sie dies tat. Sie schmeckte Blut und erwischte sich selbst beim Nägelkauen, zog daraufhin ruckartig ihre Hände weg und setzte sich auf sie drauf, um die Schmerzen zu verdrängen.
Clara dachte darüber nach, wie sie sich gestern verhalten hat, was sie dazu trieb, einmal laut loszulachen, einmal vor Wut überzuschnappen, und einmal in Resignation und Melancholie unterzugehen. Sie saß einfach nur da, starrte in die Luft, die den Raum auf erdrückende Weise füllte und verfiel immer mehr in eine Schockstarre, von der sie sich selbst kaum zu lösen verhalf.
Den Blick über die Zeit hat sie schon längst verloren; ob nun einige Tage oder schon ein paar Wochen vergangen waren, seitdem sie aus dem Nichts in der vor ihr stehenden Maschine aufwachte, machte nun auch keinen Unterschied. Sie merkte langsam, dass sie Durst und Hunger packten. Zwar war da ein Leck in einem Seitenrohr mit tröpfelndem Trinkwasser, was Clara bereits herausgefunden hat, aber stopfte das allein nicht die Leere ihres knurrenden Magens. Doch die Leere in ihrer Seele bedrückte sie durchaus mehr, als die Tatsache, dass sie als lebensfähiger Mensch Nahrung brauchte. Sie war endlos erschöpft, hatte vermutlich tief schwarze Ränder unter ihren verheult, roten Augen und war übersäht von Blut und Verbrennungen, da war ihr eigentlich alles andere egal.

Oder?

Sie saß auf dem Fliesenbode und starrte an die befliesten Wände, in denen sie nach und nach immer mehr ihr eigenes Spiegelbild wahrnahm. Obgleich sie sich anstrengte, ihr Abbild nicht zu beachten oder einfach nur irgendwo anders hin wegzuschauen, sie schaffte es nicht. Überall in diesem Raum sah sie sich selbst; ein hässliches Abbild ihrer selbst: Zerzauste Haare, wenn man das überhaupt noch Haare nennen durfte, rot-schwarze Augenlieder und Augenränder sowie Verbrennungen am ganzen Körper. Das schlimmste jedoch war, dass sie keinerlei Persönlichkeit in ihrer Reflektion erkennen konnte, nicht einmal den Hass, der sie sonst überkam, konnte sie spüren. Es war alles einfach nur leer. Kein lächelndes Gesicht von Jeydon, nichts entsprang mehr ihrer Gedankenwelt. Alle ihre Gefühle waren wie betäubt. Sie wollte sich was antun. Sie wollte Schmerzen spüren. Sie wollte irgendwas machen, was dieses Gefühl von Nichts stoppte; etwas das ihrer Atmung ein Ende setzt.

Ihr Blick fiel auf die weiße Maschine, die ihr einst die letzte Kraft raubte, zumindest für einen Moment. Angezogen von der Leere in ihr, schreitete sie langsam, Schritt für Schritt, näher an die Maschine ran. Wie ein Zombie schlenderte sie bis direkt vor die Gerätschaft, blickte kurz hinein und warf sich ohne nachzudenken auf die Liegefläche. Es rührte sich nichts. Sie zog an der Glastür, doch diese schien sich kein Zentimeter weit bewegen zu wollen. Clara wusste nicht warum, doch sie erinnerte sich an die ältere Dame im weißen Gewand, die ihr vor einiger Zeit etwas spritzen wollte, offensichtlich, um ihr etwas schlimmes anzutun. Sie dachte plötzlich, dass sie die Verantwortliche für das Ganze hier sein könnte und ihr ging ein Blitzlicht auf. "Du alte Hexe!", schrie sie stumpf aus sich heraus, "Mach die scheiß Türe zu, verdammt nochmal!". Die Laute hallten durch den Raum. Dann war es Totenstill. Kurz daraufhin jedoch, fiel die Tür mit hoher Gewalt schlagartig zu und hinterließ einen geballten Knall, der Clara laut ins Ohr dröhnte. Plötzlich war sie hellwach, Panik breitete sich in ihrer Brust aus und sie überdachte schnell ihre abgrundtiefe Dummheit, bevor das Gerät ihr die Luft abschnürte. Diesmal aber kehrte die Luft nicht kurz vorm Eintritt der Ohnmacht zurück, sondern schickte sie in eine tiefe, schlafartige Paralyse, bei der Clara jedoch ihre Augen offen zu haben schien. Sie sah Menschen, die um sie herum standen und an ihr herumdrückten. Alles war irgendwie verwischt, auch das penetrante Piepen eines EKGs im Hintergrund war völlig verzerrt, aber dennoch hörbar. Die Menschen stachen mit seltsamen Utensilien auf sie ein, schnitten in ihren leblosen Körper und drückten Clara eine durchsichtige Maske auf den Mund. Die Menschen wurden langsam immer mehr zu Farbklecksen und irgendwann vermischten sich alle Farben zunehmend ineinander. Dann fiel Claras Blick auf den Raum, in dem sie lag, einfach so, ohne Maschine, ohne Blutflecken. Alles war weiß. Sie konnte sich nicht bewegen. Schwarze Gestalten schwebten über sie hinweg. Sie schrien gemeine Dinge wie: "Du bist wertlos!", "Wir können mit dir machen, was wir wollen!" oder "Herzlich Wilkommen bei den Psychospielen!". Letzteres verfing sich in Claras Wahrnehmung und hallte dort immer wieder und wieder nach. Sie wolle sich aus diesem Zustand befreien, doch sie konnte nicht. Sie konnte sich nicht bewegen, nicht die Augen schließen und auch nicht schreien. Es war wie ein lebendiger Albtraum, als würde sie mit ihrem Astralkörper irgendwo feststecken und sich nicht bewegen können.

Clara wachte auf. Die Luke der Qualmaschine öfnnete sich und sie trat auf wackeligen Beinen hianus. Allmählich hatte sie es satt. Satt, jedes mal in diesem Raum aufzuwachen, orientierungslos und vereinsamt. Sie spürte, wie jede Zelle in ihr zerbrach, wie ein Spiegel in den eingeschlagenen wurde. Psychospiele. So nennt sich das ganze hier also. Nun, wenn das Psychospiele sind, befindet sie sich ja vielleicht in ihrer eigenen Psyche und all das hier existiert gar nicht. Ja, vielleicht war das alles nur ein Trick ihrer eigenen Gedanken. Aber was war das Motiv dahinter? Warum wollte ihr Gehirn sie gegen sich ausspielen? Warum sollte sie leiden? Warum hier, warum da. Perplex sprang sie auf und ließ sich gegen die Wand fallen. "Ich gebe auf. Hörst du? Ich bin durch mit allem. Lass mich doch endlich in Frieden! Ich bin keine Rarität, such dir doch jemand anderen, den du hier quälen kannst!", schoss es aus ihr heraus. Erstaunlicher Weise regte sich sofort etwas. Die Decke öffnete sich einen Spalt weit. Aus dem Boden kam ein Hocker hochgefahren. Ein leichter, frühlingshafter Luftzug durchströmte den Raum. In Claras Augen funkelte auf einmal ein kleiner Schimmer Hoffnung. Aus dem Spalt heraus kurbelte sich ein Seil aus. Zumindest dachte Clara, dass es ein Seil wäre. Etwas an dem sie hoch klettern konnte; ein Weg in die Freiheit. Sie rannte auf das Seil zu, als würde es um ihr Leben gehen, was es ja auch tat, aber als sich das Seil endgültig ausgedreht hat, bemerkte sie den Knoten. Es war ein Henkers-knoten. Die Luke verschloss sich wieder, nur der Strick baumelte noch, wie von Geisterhand, von der Decke. Das war es also. Der Weg zur Freiheit. So wie sie es wollte. Das Glücksgefühl und die kurze Euphorie verließen ihren Körper und wurden von Trauer und Angst ersetzt. Sollte sie es tun? Sollte sie sich erhängen? Sie dachte an Jeydon. Ihr Herz zerbrach augenblicklich. Doch da sie ihn sowieso nie wieder sehen würde, fasste sie den Entschluss.

Sie stellte sich auf einen wackeligen Holzhocker, nahm den Knoten in beide Hände und legte ihn sich um den Hals, wie eine Halskette. Sie weinte bitterlich. Sie heulte, wie ein kleines Baby, dass Hunger hat, wartend darauf, dass die Mutter kommt, es in den Arm nimmt und sagt, dass alles gut werden wird. Nur das keiner kommen würde, um Clara zu trösten. Keiner würde sich darum scheren, was nun folgte.

Sie nahm ihren linken Fuß und streckte ihn vorsichtig und zitternd vor sich. Sie atmete ein letztes Mal ein, bis sie letztendlich mit ihrem rechten Fuß nach vorne hüpfte und fiel.

Weiter und weiter fiel sie. Der Boden öffnete sich, das Seil wurde immer länger und sie fiel, wie eine Münze, die man in den Wunschbrunnen wirft. Nur, dass sie eigentlich nun tot sein sollte. Sie fiel so lange, bis sich wiederrum der Boden teilte, und sie auf dem Fliesenboden desselben Raumes aufschlug, wie zuvor. Doch sie erlitt keinerlei Verletzungen, keine Wunden und keinen gebrochenen Nacken. Das Seil war weg. Clara konnte nicht mehr. Damit war ihre gesamte Existenz entgültig gebrochen. Ihre Seele hat sich gebeugt.

Phase 3: Zerbrechen

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jan 29, 2020 ⏰

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