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Lautlos wie der Flügelschlag eines Nachtvogels klappten die spiegelnden Schuppen, die aussahen wie die Haut eines silbernen Drachen, in ihre exakt berechneten Positionen. Im Vordergrund des mit federweißen Wolkenfetzen gesprenkelten Himmels verschwand der Helicarrier unter seiner Stealth-Schicht, bis er gänzlich unsichtbar war.
Es war kurz vor zwölf Uhr am Mittag, als die fliegende Zentrale der Organisation S.H.I.E.L.D. ihren Routinekurs wieder aufnahm. Dumpf drang das Röhren der Turbinen, gedämpft durch dicke Stahlwände, als stetiges Summen an die Ohren der geschäftig arbeitenden Besatzung. Fingerkuppen glitten über hochentwickelte Bildschirme, von aufmerksamen Augenpaaren beobachtet, Waffen wurden entsichert, Koordinaten notiert, Einsatztruppen in Alarmbereitschaft versetzt. Die Unruhe war spürbar an Bord. Auf sämtlichen Decks hielten sich Mensch und Maschine in Wachsamkeit bereit für eine mögliche Katastrophe. Niemandem war entgangen, welch illustre Gäste der Helicarrier in den frühen Morgenstunden, lange bevor eine blasse Sonne das Nachtblau zerstreute, zur weiteren Beherbergung aufgenommen hatte.

Auf der Brücke musterte Phil Coulson seinen Gesprächspartner mit Nachsicht. Thor hatte sich abgewandt wie ein schmollender Junge, doch es war nur Verunsicherung, die ihn den Blick des S.H.I.E.L.D.-Agenten meiden ließ, der Unwille, eine Wahrheit in Worte zu fassen. Dennoch tat er es nach kurzem Zaudern, auf seine typische, etwas unbeholfene Art und in archaisch anmutendem Duktus, ganz wie Coulson ihn sympathisch zu finden gelernt hatte.
»Als ich das erste Mal auf die Erde kam, folgte Lokis Wut mir nach, und die Menschen zahlten den Preis. Und jetzt erneut.« Zögerlich glitt sein missmutiger Blick durch den dünnen Vorhang aus blondem Haar zu Coulson, Kritik heischend, erinnerten sie sich doch beide nur zu genau, was der emotional instabile Ziehbruder des Donnergottes der Menschheit bei ihrer ersten Begegnung angetan hatte.
Coulson erwiderte den Blick mit höflicher Zurückhaltung. Er empfand die Lage als weit weniger gravierend. Thor schien vorzuhaben, die gesamte Last von Lokis Schuld auf seine eigenen Schultern zu laden, und bedauerte diese Bürde bereits jetzt. Die Menschen zu beschützen hatte er versprochen, doch Coulson wusste, dass seine Loyalität auf irrationale Weise auch Loki galt – schließlich hatte er erst kürzlich daran erinnert, mit folgenden Worten: »Loki mag irrsinnig sein, aber er ist aus Asgard. Und er ist mein Bruder.« Thor hatte Bruce Banner empfohlen, seine ›Zunge zu hüten‹, als dieser sich über Lokis Unzurechnungsfähigkeit geäußert hatte. Für Coulson bestand kein Zweifel, dass Thor nicht jede Art der Folter tolerieren würde, die vielleicht nötig wäre, um Loki die so wichtige Information über den Verbleib des Tesserakts zu entlocken. Jene hochpotente außerirdische Energiequelle speiste das bizarr geformte Zepter, dessen Spitze einen blau glühenden Kontaktsensor einfasste, dessen bloße Berührung den Willen eines Menschen unterwerfen und ihn Loki gefügig machen konnte. Zwei wichtige Mitarbeiter hatte S.H.I.E.L.D. auf diese Weise an die Kontrolle des manischen Asgard-Sprösslings verloren: den Wissenschaftler Dr. Erik Selvig, der mit der Untersuchung des Tesserakts betraut gewesen war, sowie Clint Barton, einen Agenten mit überdurchschnittlicher Effizienz. Beide waren augenblicklich nicht mehr Herr ihrer Sinne gewesen, als die manipulative Macht des Zepters ihre Herzen berührt hatte.
Nachdem Coulson nur aufmunternd zurückschaute, gab Thor es auf, einer Antwort zu harren, und starrte wieder geradeaus durch die Scheibe, hinter welcher die arbeitende Maschinerie zu sehen war, rollend und stampfend und zischend wie das Getriebe einer Dampfeisenbahn. »In meiner Jugend«, sagte er leise und beinahe reumütig, »habe ich den Krieg gesucht.«
»Noch hat der Krieg nicht begonnen«, sagte eine schneidende Stimme zu Coulsons linker Seite. Sie gehörte Nick Fury, der plötzlich auf dem erhabenen Treppenabsatz im Vordergrund der metallisch glänzenden Wände erschienen war. Mit ernster Miene, undurchschaubar wie immer, wandte sich der imposante, dunkelhäutige Mann mit der Augenklappe an Thor. »Kannst du Loki dazu bringen, uns zu sagen, wo der Tesserakt ist?«
Coulson kommentierte diese Frage mit dem Anheben einer Augenbraue. Fury stellte niemals Bitten, von denen er sich keine positive Resonanz erhoffte. Bereits jetzt reifte ein Plan hinter diesem harten, scharfen Auge, da war der Agent sich sicher. Abwartend musterte er Thor.
Dieser ließ mit einem Seufzen den Atem entweichen. »Ich weiß es nicht«, gab er zu. »Lokis Gedanken sind verworren. Es ist nicht nur Macht, die er sucht, sondern auch Rache. An mir. Kein Schmerz kann ihn von diesem Vorhaben abbringen.«
Als Antwort auf diese wenig zufriedenstellende Aussage kam Fury die kurze Treppe herunter und trat unmittelbar vor den Donnergott. Er war groß, doch Thor überragte ihn auch mit gesenktem Kopf.
»Das denken viele«, ließ Fury den Asen wissen. »Bis der Schmerz eintritt.« Das dunkle Auge blinzelte nicht, als es den blonden Hünen ins Visier nahm.
Unglücklich erwiderte Thor den durchdringenden Blick. Er stand genau zwischen Fury und Coulson, und letzterer konnte den Ausdruck seiner Züge nicht sehen, nur erahnen. »Was genau soll ich tun?«
Es war zweifellos die Frage, auf die Fury gewartet hatte. Vielsagend gab er zurück: »Ich frage dich, was du bereit bist zu tun.«
Thor furchte die Stirn. »Loki ist ein Gefangener«, stellte er fest. Furys Andeutung schien ihn zu verunsichern.
»Warum«, schnarrte Fury mehr als deutlich zurück, »wirkt er dann so, als wäre er der Einzige, der wirklich gern auf diesem Boot ist?«
Thors Schweigen zeugte davon, dass er nicht verstand.
»Ich werde es dir erklären«, sagte Fury ruhig. »Dir und allen anderen.«

Five Days-ThorxLokiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt