Tag 4

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Am vierten Tag war es auf allen Decks kalt.
Auf der Brücke saß die Steuercrew bereits mit leichten Jacken, ehe sich die Sonnenscheibe ganz über den Horizont geschoben hatte. Die Temperatur sank langsam, aber stetig auf dem ganzen Gefährt. Auf sämtlichen Monitoren, die die Besatzung allerorts mit den neusten Informationen versorgten, waren nun zusätzlich die immer kritischer werdenden Reiseparameter eingeblendet:
altitude: 49.834 ft (AGL)
outside temperature: -58°F
Um den Sinkflug einzuleiten, was die Außentemperatur immerhin leicht erhöhen würde, war es noch viele Stunden zu früh.

Als Thor aus einem erdrückenden Gewirr wilder und verstörender Träume erwachte, wusste er nicht, wie spät es war. Das bogenförmige Display mit der Digitalanzeige, praktischerweise direkt über dem schmalen Bett angebracht, war tot. Die unnatürliche Dunkelheit, die in sämtlichen Quartieren herrschte, da sie fensterlos angelegt waren, hatte Thors innere Uhr von Beginn an irritiert, war er es doch gewohnt, mit dem ersten Sonnenlicht zu erwachen. Nun lag er in undurchdringlicher Schwärze. Selbst das ununterbrochene matte Leuchten des Alarmknopfes neben der Tür war erloschen.
Unruhig stieß Thor die Decke von sich und wälzte sich auf die linke Seite. Kalte Luft berührte den Nachtschweiß auf seiner Haut. Sekundenlang zweifelte er sogar daran, dass er sich noch auf dem fliegenden Schiff befand; dann aber berührten seine Zehenspitzen den Zimmerboden aus grauem Filz. Ja, er war hier. Alles war unverändert. Und so sehr er diesen Ort auch verabscheute, so wusste er doch, dass in den Kammern direkt neben seiner eigenen Menschen nächtigten, die ihm wohlgesinnt waren.
Ein langgezogener, ferner Ruf ließ ihn innehalten. Er glaubte, seinen Namen gehört zu haben, doch der Hall war schon verschwunden. Angespannt lauschte er ins Dunkel.
Da war es wieder. Unwirklich und aus weiter Ferne drang sein Name an sein Ohr, wie durch dicke Stoffe gedämpft, ohne jedes Echo. Durch Wände, die keinen Schall hereinließen.
Ihn schauderte. An seinem ganzen Körper richteten sich die feinen Härchen auf. Alles stand unter Spannung. Er konnte nicht anders, als wieder zu horchen.
»Thor!«
Strauchelnd kam er neben dem Bett auf die Füße, stieß mit dem Schienbein gegen den Rahmen und knirschte mit den Zähnen. Mit ausgestreckter Hand tastete er sich zur Zimmertür vor. In diesem Moment war er dankbar dafür, dass der Raum so klein war.
Als er die Tür aufzog, strömte blasses Licht hinein. Der Notstrom funktionierte noch. Ein leises Summen erfüllte den Korridor, der ansonsten völlig still war. Es musste noch früh am Tag sein.
»Thor!«
Es bestand kein Zweifel, wer da nach ihm rief. Er kannte diese Stimme seit frühester Kindheit. Kannte jede Facette an ihr, das gesamte Frequenzspektrum. Kannte sie wie die Stimmen seiner Eltern.
»Thor!«
Was hatten sie diesmal mit ihm gemacht? Thor war nicht auf der Besprechung am letzten Abend gewesen. Er hatte sich einfach zu verwirrt und entkräftet gefühlt, um der emotionslos geführten Debatte über die Handhabung seines Bruders beizuwohnen. Was hatten sie ihm jetzt angetan? Welche neue Marter war ihnen eingefallen, um seine Zuarbeit zu erwirken?
»Thor!«
Er beschleunigte seinen Schritt, kämpfte sich den Korridor hinunter. Seine nackten Zehen waren bereits wie erfroren. Er trug keine Rüstung, nicht mal richtige Kleidung, nur eine Art lange graue Tunika, wie sie jedem an Bord als Schlafbekleidung zur Verfügung gestellt worden war.
Den Weg zur Arrestebene hätte er inzwischen blind gefunden. Er war ihm so vertraut wie der Weg nach Hause.
Zwei müde aussehende junge Männer in Jacken kamen ihm entgegen. Er passierte sie, ohne innezuhalten. Ignorierte ihre fragenden Blicke.
»Thor!«
»Ja ...«
Seine Stimme klang wie das Krächzen der beiden Raben, der Späher seines Vaters. Grimmig ging er weiter. Fand die Tür zu den Verliesen verriegelt. Versuchte, sie gewaltsam aufzuschieben – und schaffte es nur mit großer Mühe.
Sein Mangel an Kraft hätte ihn überraschen müssen. Doch in diesem Moment war in seinem Bewusstsein kein Raum für Verwunderung. Selbst die Furcht vor dem, was er vielleicht sehen würde, hielt ihn nicht zurück.
»Thor!«
Hastig atmend trat er ein.
Wie immer stiegen Wolken aus Nebel vor seinem Gesicht auf. Die eisige Luft erschlug ihn beinahe.
Loki lag reglos auf seiner Pritsche. Die Decke hatte er über sich gezogen. Er hatte dem Zugang den Rücken gekehrt, nur sein dunkler, strähniger Scheitel und die Spitzen seiner Schuhe waren im klammen, flimmernden Licht zu sehen.
In diesem Moment fiel Thor auf, dass die Rufe hätten lauter werden müssen. Es war nicht möglich, dass sie sich kein bisschen verändert hatten, während er sich ihrer vermeintlichen Quelle näherte.
Eine Sinnestäuschung.
Aber wie war das möglich? Loki schlief. Und schlafend konnte er nicht wirken.
Frierend füllte Thor seine Lungen mit der schrecklich kalten Luft und trat barfuß an die Zelle heran. Seine Finger wollten ihm kaum gehorchen, als er sie um die entriegelte Tür schloss. Kein Blut floss in die gefühllosen Muskeln, und er brauchte mehrere Anläufe, um sich Zugang zu verschaffen.
Innen waren die Glaswände mit feinem Frost bedeckt. Eisblumen rankten dort, wo der Rahmen das Glas einfasste. Jede noch so kleine Menge Feuchtigkeit schlug sich nieder.
Thor sah zum Kopfende der Pritsche, wo der Wasserspender eingelassen war. Er sah genauso aus wie der in seinem eigenen Quartier, eine kleine Schale, die sich automatisch füllte, wenn Druck auf ihren Grund ausgeübt wurde. Wie eine Pferdetränke. Nun hing an ihr ein harter, klarer Tropfen. Lokis Trinkwasser war gefroren. Thor fragte sich, wie groß der Anteil des Liebestranks darin mittlerweile war. Ohne darüber nachzudenken trat er zu seinem Bruder und umfasste dessen schlaffe Gestalt mit den Armen, um sie aufzurichten und sich neben ihn zu setzen. Auf der Pritsche kauernd zog er die Beine an und schlang die Decke um sie beide.
Loki sank widerstandslos gegen ihn. Sein Haar war voller Raureif, eine feine weiße Kristallschicht hüllte die Spitzen ein. Unter der farblosen Gesichtshaut schimmerten bläuliche Adern wie feine Fäden.
Es dauerte nur Sekunden, bis Thor zu zittern anfing. Die graue Decke war ein ärmlicher Schutz gegen die alles durchdringende Kälte. Von Lokis Körper ging keine Wärme aus. Er brauchte sie nicht. Er war in einer solch harschen Welt geboren. Sein falscher Bruder.
Thor schloss die Augen und rang mit dem unkontrollierten Schlottern, das seinen ganzen Körper einzunehmen drohte. Fast konnte er das Zähneklappern nicht mehr unterdrücken. Wo der Dampf seines Atems seine Augen berührte, hingen Perlen aus Eis in den Wimpern.
Lokis Kopf an seiner Schulter regte sich. Mit einem zärtlichen blauen Lächeln sah er zu Thor auf.
»Friert dich, Bruder?«
»Nnnn ... nein.«
»Oh, dir ist also warm?« Loki quittierte die furchtbar schlechte Lüge mit einem nachsichtigen Lächeln.
Thor schnaufte. Er wusste nicht, warum er hier war, warum er sich dieser Kälte aussetzte. Er wollte von hier fort. »Ich k-kannnn ... nnicht bei d-dir bleiben.«
»Du kannst nicht gehen«, sagte Loki ruhig und legte den Kopf wieder an seine Schulter. »Ich war zu lange allein. Ich habe Angst, allein zu sein, Thor. Auf mich selbst zurückzufallen ... ist unerträglich für mich.«
Thors Gedanken wurden müde. Während sein Leib noch immer heftig gegen die Kälte kämpfte, schwamm sein Geist langsam in die Ferne davon.
»Warum ... Loki ... Warum t-tust du ... mir das an? All das ...« Seine Zunge wurde lahm.
»Das weißt du genau«, entgegnete Loki mit einem Anflug von Zorn in der Stimme. »All die Jahre, in denen ich hinter dir zurückstehen musste. Jede Möglichkeit hast du ergriffen, um vor Vaters Augen in einem besseren Licht dazustehen. Auch zu meinem Nachteil. Ohne Rücksicht. Du hast mich nur dann geliebt, wenn ich dir nicht im Weg war. Dann hast du mit mir geteilt, dich mir großmütig zugewandt. Vorgegeben, dich um mich zu sorgen. Mir einen Teil deines Ruhmes abzugeben. Der rührende große Bruder.« Dunkler Neid troff nun aus seiner Stimme. »Falsche Bescheidenheit. Hinterhältigkeit. Sobald auch mir Aufmerksamkeit zuteil wurde, hast du mich auf meinen Platz verwiesen. Hartherzig. Du hast auch meinen Verdienst an dich gerafft, wenn es deinem Ansehen zuträglich war. Alle liebten den mächtigen Thor. Den großen Thronerben. Es gab nichts, das du nicht konntest. Alles hast du getan, um den Ruhm zu ernten. Auch dann, wenn ich ihn verdient hatte. Aber wer hörte auf mich? Nicht einmal Vater. Er sah immer nur dich. Nur dich.« Loki zitterte jetzt ebenfalls. Es war kein Beben vor Kälte, sondern vor Hitze, ein inneres Toben, das nach außen drang wie das schmelzende Magma im Inneren eines Vulkans. In Loki glühte noch Feuer. Das Feuer des Hasses. »Dich loszuwerden war die einzige Möglichkeit. Ich hielt es nicht mehr aus. Die Eifersucht zerfraß mich. Hätte ich dich nicht beseitigt, hätte ich den Verstand verloren.«
In Thors Sichtfeld war alles verwaschen und schemenhaft. Sein Körper zitterte nicht mehr so sehr. Eigentlich kaum noch. Er konnte nicht mehr richtig sehen, hörte Lokis Worte nur noch von fern. Ihr Sinn erreichte sein Bewusstsein nur schleppend.
»Ich ... ich wusste nicht ...«, begann er lahm. »Ich wollte ... es nicht ...« Seine Augen glitten in ihren Höhlen ziellos umher. Sein Kinn sank mehr und mehr auf seine Brust.
»Doch, du wusstest«, wisperte Loki. »Und du wolltest.« Wie um seine Worte Lügen zu strafen, drückte er sich enger an Thors erfrierenden Körper, rieb seine eiskalte Wange an der empfindungslos gewordenen seines Bruders.
»Nein ...« Thor versuchte, sich zu bewegen. Leben in seine tauben Glieder zu bringen. Träge rollte das Blut durch seinen Leib. Viel zu langsam. Ohne Wärme.
Loki atmete in seine Halsbeuge. Der kalte Hauch eines Jotunen, der das blonde, eisverkrustete Haar bewegte. Dann küsste er sanft die zarte Haut an Thors Nacken. Dort wuchs eine Eisblume auf den feinen Härchen. Loki hob die Lippen dicht unter sein Ohr.
»Ich liebe dich, Bruder«, flüsterte er hinein, und seine Stimme war wie das Klirren von Eis. »Und eines Tages werde ich dich töten.«

Five Days-ThorxLokiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt