Tag 5

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Am fünften Tag wurde die Besatzung des Helicarriers schleichend paranoid.
Noch vor dem Morgengrauen wurden rätselhafte Sichtungen gemeldet. In unbelebten Korridoren wandelten Schatten im diffusen, zunehmend ausfallenden Licht des Notstroms, flüsterten nicht vorhandene Windbewegungen die Namen der verängstigten Crewmitglieder. Einige sprachen sogar von Schreien. In den frühen Stunden des Tages häuften sich bereits die Nervenzusammenbrüche.
Mit Sedativa war den Halluzinationen beizukommen, doch die Medikation machte die Patienten untauglich für den Dienst an Bord. Diejenigen, die dem Infraschall in der Nähe des Zepters besonders ausgesetzt waren, klagten über unerklärliche Ängste und Attacken heftiger Übelkeit.
Längst waren Ruhe und Schlaf die seltensten aller Güter. Rarer noch als warmes Essen, warme Getränke oder Wärme an sich – denn mittlerweile hatte die Temperatur den Gefrierpunkt unterschritten. Dass der Helicarrier sich bereits im Anflug auf den pompös über Manhattan aufragenden Stark Tower befand, gab bestenfalls einen trügerischen Anlass zur Hoffnung.

Geschlafen hatten auch Romanoff, Stark und Rogers nicht. In den Quartieren war es so kalt wie an jedem anderen Ort, und so hatten sie sich, in ihrer Thermokleidung dicht aneinander gedrängt wie Küken im Nest, nicht aus dem Beobachtungsraum entfernt, von dem aus sie Thors Martyrium verfolgten. Der Prinz von Asgard hatte mittlerweile ebenso blaue Lippen wie sein unheimlicher, wahnsinniger Bruder, und sein Blick war glasig, nicht nur vor Müdigkeit, sondern auch, weil Loki alle Wärme aus ihm herauszusaugen schien. Raureif überzog Thors Haar, Bart und Wimpern, seine Schultern waren schlaff. Das Blut auf seinem Nacken, hervorgerufen durch Lokis Liebesbiss, sah aus wie eine gefrorene rote Blüte.
»Wir sollten ... nach Phil suchen.« Romanoff kämpfte, an Rogers' Schulter gelehnt, gegen eine überwältigende Müdigkeit, hervorgerufen durch Übernächtigung und Kälte. Vor allem durch Kälte. »Vielleicht ... können wir die beiden betäuben und Thor rausholen.«
»Kein schlechter Plan.« Stark, ihnen gegenüber, rieb sich die Nase, die rot war und damit erkennen ließ, dass sie noch gegen die Erfrierung ankämpfte. »Wobei ich das ... immer noch nicht kapiere.« Er schniefte. »Thor ist ... zumindest in den Legenden ... der stärkste Mann Asgards. Niemand kann seinen Hammer auch nur 'nen Millimeter anheben. Und jetzt hockt er da unten ... und kriegt Loki nicht von der Pelle ...«
»Vielleicht noch mehr Nebenwirkungen von Taps' Wundermittel«, sagte Rogers verächtlich. Von ihnen dreien schien er die Kälte noch am besten zu vertragen. »Sie haben die Videoaufzeichnung gesehen, ich würde sagen, die erklärt sehr viel.«
»Die Frage ist, ob unsere Freunde Nick und Phil sie auch gesehen haben.«
»Sicherlich nicht. Ein Grund mehr, warum Sie sie ihnen unbedingt zeigen müssen. Taps hat dieses Experiment unter völlig falschen Voraussetzungen begonnen. Er hätte wissen müssen, dass es aus dem Ruder laufen würde. Sein Verhalten könnte ihn vor ein Kriegsgericht bringen.«
»Sie immer mit Ihrem Krieg.« Stark zog erneut die Nase hoch. »Oh, Mann ... Ich krieg Schnupfen ... Na toll ... Hat mal jemand ein – ...«
»Wir befinden uns im Krieg, haben Sie das vergessen?«, unterbrach Romanoff ihn etwas schroff, während sie ihm ein Taschentuch reichte. Es war eins ihrer letzten. »Unser hochtechnisiertes Flugzeug ist nur noch eine Ansammlung schwerster Pannen, für die es keine Erklärung gibt. Lokis Verbündete werden die Erde erreichen, wenn wir den Tesserakt nicht rechtzeitig bergen. Und ich gebe zu ...« Ihr Blick wanderte wieder zu dem mit Eisblumen bewachsenen Fenster. »... ich persönlich setze keine Wette mehr darauf.«
Danach war es vorerst wieder still unter ihnen. Die ganze Nacht über hatte wenig Mitteilungsbedürfnis bestanden, und auch jetzt, da sie alle langsam wieder einigermaßen zu sich kamen, waren Konversationen wie diese eher nicht von langer Dauer. Romanoff hatte das Gefühl, dass die Situation alle an Bord lähmte – wie sonst war es zu erklären, dass innerhalb der letzten Stunden, in denen sie allein zu dritt Thor und Loki beobachtet hatten, niemand zu ihnen gekommen war? Sie hatten erwartet, dem Erstbesten, der hier nach dem Rechten sah, Meldung machen zu können, doch kein Aufsichtspersonal hatte sich blicken lassen. Jeder hatte, so schien es, momentan mit sich selbst genug zu tun. Offenbar galt das auch für Fury, Coulson, Hill und sogar Taps.
Minuten später sagte Rogers vorsichtig: »Ob es Dr. Banner gut geht?«
»Warum denn nicht?«, gab Stark lustlos zurück. »Er schläft inmitten von Eis. Genau wie Sie damals.«
»Wir sollten uns lieber Gedanken um Thor machen«, erinnerte Romanoff scharf, nicht bereit, sich ganz der einlullenden Gleichgültigkeit hinzugeben, die die Kälteeinwirkung ihnen überstülpte. »Er ist sehr widerstandsfähig, aber er wird nicht ewig durchhalten.«
»Gibt immer noch 'ne Möglichkeit, ihn und das ganze verfluchte Schiff zu retten«, wandte Stark ein.
Ihre Miene verfinsterte sich. »Sie wissen, was ich davon halte.«
»Haben Sie ja deutlich gesagt.«
»Ich lasse Sie das Experiment nicht sabotieren, Tony, egal wie zuwider es mir ist. Entweder Nick bricht es ab oder niemand.«
»Na fein, dann ... suchen wir ihn jetzt. Bringt ja nichts, hier rumzusitzen.« Als Stark aus der Mitte der beiden rückte, um sich schwerfällig zu erheben, fühlten Romanoff und Rogers dort sofort die klamme Kälte und drängten unwillkürlich näher zueinander.
»Warten Sie«, hielt der Captain ihn auf. »In etwas mehr als einer halben Stunde steht die Besprechung an. Dann kann das ganze Team darüber beraten, was zu tun ist.«
Stark schnaubte. »Pah, vergessen Sie's. Ich geh nicht mehr zu den Konferenzen. Das Experiment ist 'ne reine Farce und ich hab's satt, das können Sie mir glauben. Ich schnapp mir jetzt Nick und zeig ihm, was Taps für 'n räudiger Hund ist. Sie beide können ja solange weiterkuscheln.«

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