Tag 1

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Am ersten Tag lag der Helicarrier ruhig in der Luft. Oberhalb einer dünnen Wolkenschicht badete seine glänzende Außenbeschichtung im Licht der Morgensonne und leitete die aufgenommene Solarenergie direkt in den Versorgungskern, wo sie unter anderem die Frischwassertanks erwärmte.
Dankbar für heißes Wasser war an diesem Morgen auch Natasha Romanoff, als sie in ihrem Quartier unter der Dusche stand. Ein leichter Kopfschmerz plagte sie schon seit dem Erwachen und wollte sich auch nach minutenlanger hartnäckiger Stirnmassage nicht vertreiben lassen.
Und wenn schon. Sie war Profi. Ihr Körper durfte sie nicht von der Arbeit ablenken, dazu war sie zu wichtig. Besonders jetzt.
Loki hatte längst unter Beweis gestellt, dass er keine Skrupel hatte, Leben zu nehmen, wo auch immer es ihm dazu diente, seine Macht zu beweisen. Die kurzlebigen Menschen bedeuteten ihm nichts; schlimmer noch, er betrachtete sie als Ungeziefer, das sich nicht wehren würde, das ihm lediglich als Platzhalter für ein Volk diente, das seiner Regentschaft würdig war.
Sie durfte auf keinen Fall versagen.

Das unangenehme Pochen in den Schläfen ignorierend betrat sie erhobenen Hauptes den Versammlungsraum, den sie und die anderen Betreuer des Projekts Five Days von heute an dreimal täglich zum Konferieren nutzen würden. Ursprünglich hatte Director Fury die Avengers zusammengetrommelt, um Loki zur Strecke zu bringen; nun waren sie spontan umfunktioniert worden, um ihn im Auge zu behalten, während ein hochkonzentriertes Drogengemisch sein psychisches Profil neu ausrichtete. Nicht gerade eine Aufgabe, die einer Handvoll Männern mit extravaganten Kampfeigenschaften zugedacht werden sollte. Der vorausgegangene Tag hatte bereits gezeigt, was zu viel Testosteron innerhalb von vier Wänden bewirken konnte. Hoffentlich würden ihre Kollegen sich zusammenreißen. Vor allem Stark.
»Kaffeechen, Agent Romanoff?« Starks Ton war unschuldig, als er vom Kaffeespender an der Wand aufsah und sie erwartungsvoll musterte.
»Hatte ich schon«, gab sie steif zurück und ließ sich an dem langen Tisch nieder, der den Raum fast ganz ausfüllte.
Außer ihr und dem Erfinder war noch niemand anwesend, sodass das Brummen des Heißgetränkeautomaten das einzige Geräusch war, das die kühle, gefilterte Luft erfüllte.
Minutenlang schloss sie die Augen und konzentrierte sich auf den pochenden Schmerz oberhalb ihrer Augenbrauen. Sie stellte ihn sich als pulsierenden roten Fleck vor, den allmählich ein reines, makelloses Weiß einzunehmen begann. Als ihre Gedankenkraft den Schmerz schließlich unter kühlem Schnee hatte verschwinden lassen, glaubte sie, dass er tatsächlich kaum noch spürbar war.
Fury, Coulson und Hill erschienen wenige Minuten später als geschlossene Gruppe. Romanoff zweifelte nicht daran, dass die drei bereits irgendeine Art von Absprache getroffen hatten, deren Inhalte nicht für sie und die anderen bestimmt waren.
Pünktlich um neun Uhr waren tatsächlich alle Mitwirkenden schweigend versammelt und warteten darauf, dass jemand die Besprechung eröffnete. Es sah jedoch nicht so aus, als würde das in Bälde geschehen. Die drei S.H.I.E.L.D.-Mitarbeiter strahlten würdevolle Ernsthaftigkeit aus, während sie auf ihren Plätzen vor sich hin schwiegen, Dr. Banner drehte nervös seine Lesebrille in den Fingern, Thor sah nach wie vor verstimmt aus und Rogers, adrett wie immer, hatte die Hände auf dem Tisch gefaltet und verhielt sich geduldig ruhig. Nur Stark, der nie seine Klappe hielt, fühlte sich auch jetzt zum Nachhaken verpflichtet.
»Ähm ... Worauf warten wir denn, wenn ich fragen darf?«
»Auf Agent Taps«, antwortete Fury. »Er hat die Herstellung des Medikaments überwacht und wird während dessen Einsatzes die Aufsicht leiten.«
»Ach ja? Sie haben uns gar nicht gesagt, dass noch jemand mitspielt.«
»Er hat die Testreihe mit den Versuchstieren geleitet, deshalb habe ich ihn vergangene Nacht an Bord holen lassen. Er wird Sie nicht stören.« Diese letzte Ansage galt Romanoff.
Auch für sie war die Information neu, dass nicht Coulson oder Hill die Aufsicht führten. »Ich muss mit Loki allein sein«, sagte sie nachdrücklich.
»Und das werden Sie«, wurde ihr versichert.
Hinter ihnen öffnete sich leise die Tür. Romanoff und die anderen vier, die nicht dem Eingang zugewandt saßen, drehten sich um und beobachten, wie sich eine hagere Gestalt durch den Spalt schob und vernehmlich hüstelte.
»Verzeihen Sie meine Verspätung, Director Fury.«
»Stattgegeben, Agent Taps. Setzen Sie sich. Wie ist Ihr erster Eindruck?«
Der schmale, grauhaarige Mann, dessen Kopf noch weniger Haar zierte als den von Coulson, nahm leise an der Tischfront neben Agent Hill Platz. Dass sämtliche Versammelten ihn beäugten, schien ihm nicht zu behagen. Seine Finger zitterten leicht und seine Stimme war dünn, als er sagte: »Nun. Ähm. Ich ... habe mir das Subjekt heute Morgen angesehen.«
»Das was?«, fragte Thor ungehalten, und ausgerechnet Stark beugte sich hinüber, um ihm die gepanzerte Schulter zu tätscheln.
»Nicht aufregen, Großer. Ähm, Taps? Waren das Ihre Finger, die wir in Nicks Filmchen gesehen haben?«
Unter Starks scharfem Blick wurde der Agent in seinem glattgebügelten Anzug unwillkürlich kleiner. »Nun. Ja.«
»Glauben Sie, Ihr kuscheliges Opossum hat Sie gut auf das hier vorbereitet?«
»Stark!«, drohte Captain Rogers von Thors anderer Seite.
Romanoff fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Dieser Morgen war kein guter Auftakt für den ersten Tag.
»Ich ...« Agent Taps räusperte sich. »... habe mit der Minimaldosis begonnen, abgeleitet von einer Schätzung des Körpergewichts. Zwar haben die Drucksensoren der Zelle einen Wert verzeichnet, aber ich meine, wir wissen nicht, wie viel diese Kleidung wiegt ... dieses Leder ... und Metall ...« Er gestikulierte vage, Blicken ausweichend. »Nun ja ... Im Laufe des Tages werden die Wirkstoffe sich im Organismus anreichern, sodass wir morgen die Prägungsphase einleiten können.«
»Erst morgen?« Romanoff ließ die Hand sinken, die gerade noch ihre drückenden Schläfen geknetet hatte. »Ich möchte heute noch zu ihm. Nick?« Sie hatten dies besprochen. Sie würde Loki nach Clint fragen. Sie musste nach Clint fragen. Und ganz nebenbei würde sie in Erfahrung bringen, weshalb um alles in der Welt Thors Bruder sich so bereitwillig S.H.I.E.L.D. ausgeliefert hatte. Es würde möglicherweise eine Katastrophe verhindern. Zeit, einen weiteren Tag zu warten, hatten sie nicht.
»Natürlich können Sie zu ihm«, nickte Fury das Gesuch ab. »Horchen Sie ihn aus, so gut es geht. Vielleicht hat er uns schon etwas mitzuteilen.«
»Davon bin ich überzeugt.«
»Wie oft bekommt Loki das Elixier?«, erkundigte Thor sich beunruhigt. »Was wird geschehen, wenn er zu viel davon aufnimmt?«
Agent Taps wandte sich ihm mit einem dünnen Lächeln zu. »Sie müssen Thor sein«, folgerte er. Es war kein großes Kunststück, das zu erkennen. »Nun. Seien Sie unbesorgt. Ich habe dafür zu sorgen, dass ihm eine genau berechnete Dosis zugeführt wird. Wir alle treffen uns dreimal täglich in diesen Räumlichkeiten – jeweils nach Applikation der Droge.«
Thor sah müde zurück. »Also hat er schon etwas davon zu trinken bekommen.«
»Nun. Die Minimaldosis. Wie gesagt. Wir erhöhen die Menge später.«
Es war unschwer zu erkennen, wie sehr dem Asen die Vorgehensweise immer noch missfiel. Vielleicht hatte er sogar die Missbilligung seines Volkes zu fürchten, wenn er den Verbrecher, der einer der ihren war, nicht in zurechnungsfähigem Zustand zurück nach Asgard brachte. Romanoff nahm sich vor, bei Gelegenheit mit ihm darüber zu sprechen, und hoffte, dass ihr nicht ein neugieriger und unsensibler Tony Stark zuvorkommen würde.

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