Die Klinik

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Punkt sieben Uhr kommt die Schwester ins Zimmer. Sie wünscht mir einen guten Morgen, so wie immer. Sie öffnet die unterschiedlichen Schnallen und befreit mich somit von der unbequemen Matratze, so wie jeden Morgen. Ich quäle mich langsam aus dem Bett und stehe nun vor ihr. Mein Blick ist dem Boden gewidmet. Sie fragt mich, wie ich geschlafen habe. Doch wie jeden Tag erhält sie keine Antwort. Sie gibt mir meine Kleidung, so wie jeden Morgen. Ich nehme ihr diese ab und begebe mich in das anschließende Bad. Die Tür bleibt offen. Die Schwester steht davor und beobachtet jede meiner Handlungen. Mein Blick trifft auf den Spiegel. Meine Haut ist blass. Meine Augenringe trage ich nun schon seit ein paar Jahren mit mir. Meine langen, hellbraunen Haare sind zu einem Dutt zusammengebunden, doch stabil war dieser schon seit Monaten nicht mehr. Ich ziehe mein weißes Nachthemd aus und stehe nun nackt vor der Schwester. Ich fühle mich unwohl, auch nach all den Jahren. Man kann Abdrücke der Schnallen auf meinem Körper erkennen. Diese Nacht muss wieder etwas passiert sein. Ich habe mich in der Nacht gewehrt und wollte raus. Ich wollte nicht, dass die Schwester es bemerkt und ziehe mir schnell meine Sachen über. Ich wollte erst noch meinen Dutt neu machen, doch die Schwester erinnert mich daran, dass ich zu spät zum Frühstück komme. Ich folge ihr aus dem Zimmer und in den Essenssaal. Auf dem Weg sehe ich die anderen Menschen, die hier mit mir gefangen sind. Ich betrete den Saal und sehe mich erstmal um. Ein paar Schwestern kämpfen gerade mit einem Mädchen, welches sich strickt weigert etwas zu essen. Ein Junge, welcher um die 14 sein musste, sitzt in einer Ecke des Saals und hält sich die Ohren zu. Ein Pfleger versucht auf ihn einzureden. Ansonsten sitzen im Saal verteilt weitere Personen, die ungefähr in meinem Alter sind und frühstücken. Ich begebe mich zur Essensausgabe und hole mir mein Frühstück ab. Eine Scheibe Brot mit irgendeinem Belag drauf und dazu ein Glas Wasser. Mein Frühstück seit sieben Jahren. Ich schaue mich nach einem freien Platz um und entdecke, wie eine Schwester mit einer weiteren Frau den Raum betritt. Ich verfolge die beiden mit meinem Blick. Ich bin schon seit mehreren Jahren hier jedoch kenne ich nur die Schwester. Der Blick der fremden Frau trifft auf den meinen. Schnell wende ich meinen Blick wieder ab und begebe mich zu einen der freien Plätzen. Ich lasse mir Zeit beim Essen, schaue aber auch nicht auf, obwohl irgendwas an dieser Frau eigenartig ist. Es wurde zwar mal erwähnt, dass wohl eine Therapeutin verlegt wurde, jedoch bin ich mir nicht sicher ob sie das sein soll. Ich bemerke wie eine der Schwestern auf mich zu kommt, weshalb ich noch schnell mein Wasser austrinke und dann aufstehe. Meine erste Therapie scheint gleich zu beginnen und sie führt mich in den Raum. Ich hasse die Musik Therapie. Ich setze mich, wie jeden Tag, an das Klavier. Eine Pflegerin behält mich währenddessen im Auge Ich schaue rüber zu der Harfe. Noch ehe ich darüber nachdenken kann, stehe ich neben ihr und schaue sie mir genau an. Ich zupfe an einer ihrer Saiten. Neben dem Ton höre ich noch etwas. Ein Flüstern. Es ist leise und ich kann es kaum verstehen. Wieder zupfe ich an eine der Saiten und beuge mich näher heran. Wieder höre ich das Flüstern. Ich schaue kurz zu der Pflegerin, doch sie unterhielt sich mit einer weiteren Person, weshalb ich nun über die Saiten fahre. Das Flüstern wird lauter und ich verstehe allmählich, was die Stimmen mir sagen. Letzte Nacht hat sich hier jemand umgebracht. Das erklärt, wieso ich die Abdrücke der Schnallen auf meinem Körper habe. „Du bist Heaven, nicht wahr?", höre ich auf einmal eine Stimme hinter mir. Ich schrecke sofort von der Harfe weg und schaue zu der Frau, welche vorhin im Essenssaal war. Ich nicke leicht, aber sage wie immer nichts. Nach all den Jahren habe ich gelernt zu schweigen. Meine Mutter hat es mir beigebracht. Ich durfte niemanden sagen, was ich hörte und wen ich sah. „Du musst keine Angst vor mir haben. Ich werde dir helfen.", sagt die Frau. „Das sagen sie hier doch alle", murmel ich leise. Jeder hier will uns helfen. Wenn sie uns festbinden ist es nur um uns zu helfen. Wenn sie uns schlagen, wollen sie uns helfen. Wenn sie uns Beruhigungsmittel verabreichen, wollen sie uns helfen. „Du darfst niemanden etwas von diesem Gespräch sagen. Verstanden?", sie sieht mich etwas länger an, woraufhin ich nicke. Im nächsten Moment füllt sich der Raum. Ich setze mich wieder zurück zum Klavier ohne ein weiteres Mal die Fremde anzusehen. Die Stunde beginnt. Wie sich herausstellt ist die Unbekannte tatsächlich eine Therapeutin. Wir sollen unterschiedliche Tönen spielen, unsere Augen schließen und den Klang der Instrumente genießen. Mittlerweile konnte ich sogar Klavier spielen. Die Stunde vergeht schnell, so wie jedes Mal. Nach und nach kommen Schwestern ins Zimmer und bringen die Patienten in ihre Zimmer. Ich bin die Letzte im Raum. Ich sehe mich nochmal um ,bevor ich dann selbst den Raum verlassen muss. Der Weg führt uns direkt zur nächsten Therapiestunde. Ich setze mich wie gewohnt auf meinen Platz und warte auf weitere Patienten. Vor mir liegt ein Blatt Papier, sowie ein paar wenige Stifte. Sie fängt an zu reden, so wie jede Stunde, weshalb ich ihr nicht mehr zuhöre. Kurz darauf fängt die Musik an zu spielen. Ich schließe meine Augen und nehme den Stift. Ich setze ihn an dem Blatt Papier an. Ich höre der Musik zu, doch es war anders wie sonst. Ich höre nicht nur die Musik, sondern auch was anderes. Ich öffne meine Augen und schaue mich in dem Raum um. Jeder lauscht der Musik, abgesehen von mir. Ich versuche mich wieder zu konzentrieren, schließe meine Augen und setze den Stift an. Wir sollen uns auf die Musik konzentrieren und uns von dieser leiten lassen. Wir sollen malen mit geschlossen Augen. Die Psychologen erkennen in jedem Bild etwas, obwohl es manchmal nur ein paar Striche sind. Ich setze die ersten Striche an, dabei konzentriere ich mich auf die Musik. Die Stimme zwischen der Musik unterbricht mich ein weiteres Mal. Ich habe das Gefühl, dass diese Stimme mir etwas sagen will. Ich lasse mich ganz auf die Stimme ein. Ich setze einen Strich nach den anderen. Der Bleistift schwebt über das Blatt. Er wird nicht von mir geleitet. Es fühlt sich anders an, als sonst. Ich höre die Frau sprechen und im selben Moment verstummt die Musik. Ich öffne meine Augen und schaue auf das Bild vor mir. Die Frau sammelt die Bilder der anderen ein, während ich auf das meine starre. Es war ein altes Gebäude. Es schien ziemlich groß, dazu aber versteckt. Meine Zeichnung sieht eher aus wie ein Bild. Das Haus muss in einem Wald stehen, denn ich habe auch einige Bäume gemalt. Die Frau schaut auf mein Bild runter und scheint ziemlich überrascht. Sie nimmt es an sich und im nächsten Moment habe ich das Zimmer auch wieder verlassen. Ich werde zurück in mein Zimmer gebracht. Nun sitze ich hier. Meist ein bis zwei Stunden. Manchmal auch länger. Ich sitze an dem kleinen Tisch, schaue runter auf meine Hände und vertiefe mich in meine Gedanken. Ich kenne das Gebäude nicht. Ich kenne auch die Stimme nicht. Ich starre auf meine Finger, während die Sonne langsam untergeht. Meine Gedanken sind immer noch bei dem Gebäude, welches ich gezeichnet habe. Hat es was zu bedeuten? Ich schaue langsam auf. Die Sonne steht an einem gewissen Punkt. Ich habe es mir extra auf dem Tisch markiert. Eine Kerbe in den Tisch mit meinen Fingernägeln geritzt. Ich sehe mich in meinem Zimmer um. Ich bin alleine. Noch im selben Moment blitzt es in meinem Zimmer auf. Ich muss meine Augen schließen, da es so hell ist. Meine Augen öffnen sich langsam und vor mir war eine weiße Gestalt. Sie ist schwer zu erkennen. Sie kommt pünktlich, wie jeden Abend. Auf meinen Lippen bildet sich ein Lächeln, als ich meine Mutter vor mir erkenne. Wir stehen uns einen Augenblick gegenüber, sagen nichts und schauen den jeweils anderen an. Ich kann sie nur schwer erkennen, jedoch spüre ich ihre Anwesenheit. „Mum...", sage ich leise, während sich Tränen in meinen Augen bilden. „Es wird alles gut, Heaven." Ein heller Schatten streckt sich zu mir herüber und im selben Moment spüre ich eine angenehme Wärme an meiner Wange. „Was hat es mit diesem Gebäude auf sich?", frage ich sie nun. Es wird alles gut.", wiederholt sie. Die Wärme verschwindet, genauso wie die schwache Gestalt. „Nein! Mum, warte..." Ich versuche nach ihrer Hand zu greifen, doch ich greife ins nichts. Die Tränen laufen nun über mein Gesicht und ich kann sie nicht zurückhalten. Meine Zimmertür öffnet sich. Ich stehe mit dem Rücken zu der Schwester, welche mir sicherlich mein Abendbrot, sowie meine Tabletten bringen will. Ich wische über meine Wangen und drehe mich zu ihr um. Es ist jedoch keine Schwester, sondern die fremde Frau. „Ich will dir hier raushelfen, Heaven. Du musst mir Vertrauen." Sie schließt die Tür hinter sich und kommt auf mich zu, weshalb ich ein paar Schritte zurückgehe. „Du hast mit deiner Mutter geredet, nicht wahr?", fragt sie mich, doch ich schüttle den Kopf. „Ich will dir nur helfen", wiederholt sie langsam. „Wer bist du?", frage ich nun. „Mein Name ist Prudence. Du musst mir jetzt genau zu hören."
Ich nicke etwas und schaue sie abwartend an. „Die Hunters sind auf den Weg hierher und wollen jeden töten, der etwas übernatürliches in sich trägt."
Ich gehe weiter ein paar Schritte zurück, sodass ich nun gegen die Wand stoße, jedoch löse ich meinen Blick von Prudence nicht. „Was meinst du mit übernatürlich?", stelle ich meine nächste Frage. „Menschen die so sind wie wir.", versucht sie zu erklären. Ich schaue sie mir genau an, aber verstehe nicht was sie meint. Sie bemerkt meinen Blick und zeigt mit einem Finger auf ihre Augen, welche im selben Moment weiß aufleuchten. Meine Mutter hat mir von solchen Wesen erzählt. Sie nennt sie Salvators. Meine Mutter meint außerdem, dass ich ihnen vertrauen kann. Ich nicke wieder nur und schaue sie weiter an. „Ich werde dich hier rauslassen. Du musst auf direktem Weg in den Wald rennen. Dein Instinkt wird dich zu Moonlight Hill führen.", erklärt sie mir. „Was ist Moonlight Hills?", frage ich sie. Sie schaut erst etwas verwirrt, aber antwortet dann: „Das Gebäude, das du heute gezeichnet hast. Du wirst es finden."
Also hat das Gebäude doch noch eine Bedeutung. Ich wusste doch, dass ich nicht verrückt bin, obwohl meine Mutter mir das schon seit Jahren sagt. „Wir müssen gleich los. Sonst wirst du hier nie wegkommen."
Sie öffnet die Tür und begibt sich langsam auf den Flur. Sie schaut sich erst um, gibt mir dann aber ein Zeichen, um ihr zu folgen. Ich bin mir erst unschlüssig, aber folge ihr dennoch. Bevor ich jedoch das Zimmer endgültig verlasse, schaue ich nochmal zurück. Auf meinem Bett liegt noch ein altes Stofftier, welches ich seit Jahren bei mir habe. Es ist das letzte, was ich von meiner Mutter habe. Ich will gerade zurück gehen, da zieht mich Prudence aus dem Zimmer. Sie schiebt mich etwas vor sich und so gehen wir durch die endlosen Flure. Wir kommen vor dem Aufenthaltsraum der Schwestern an. „Was willst du hier?", frage ich Prudence. „Es ist der einzige Weg hier rauszukommen."
Sie nimmt einen Schlüssel aus ihrer Tasche und schließt die Tür auf. Nachdem sie sich nochmal umgesehen hat, schiebt sie mich in das Zimmer. „Du solltest dir was anderes anziehen." Wir sehen uns in dem Raum um, aber entdecken nichts außer ein weißes Hemd. Dieses ziehe ich mir an, während ich meine alten Sachen in ein Schließfach werfe. Ich öffne noch meine Haare, um sie endlich aus diesem schrecklichen Dutt zu befreien. Währenddessen geht Prudence zu den Fenstern und öffnet dieses. „Du musst dich beeilen."
Ich klettere auf das Fensterbrett und sehe nach unten. Wir befinden uns im dritten Stock. „Ich kann doch nicht springen!", schreie ich schon fast panisch. „Dir wird nichts passieren.", beruhigt mich Prudence und im selben Moment öffnet sich die Tür. Ich spüre eine Hand an meinem Rücken, welche mich wegdrückt und im nächsten Moment stehe ich auf dem Gras, welches sich auf dem Hof der Psychatrie befindet. Ich schaue nach oben, doch das Fenster ist wieder geschlossen. Ich trage keine Schuhe, weshalb ich das feuchte Gras unter meinen Füßen spüren kann. Obwohl ich nur dieses dünne Hemd trage, ist mir nicht kalt. Es müsste Mitte August sein, aber in Florida ist ja sowieso nur selten kalt. Es ist schon Jahre her, seitdem ich diese Gefühl hatte. Ich genieße den Moment der Freiheit, doch dann wird mir bewusst, was Prudence mit gesagt hat. Ich bewege mich langsam von dem Gebäude weg. Meine Schritte werden immer schneller. Ich renne über das Gelände der Klinik, bis ich an einem Zaun ankomme. Er muss um die 2 bis 3 Meter hoch sein. Ich schaue mich kurz um, aber kann niemanden entdecken. Meine Hände legen sich an den Zaun und innerhalb von wenigen Sekunden habe ich mich hochgezogen. Ich spüre einen stechenden Schmerz an meinen Händen und bemerke den Stacheldraht am Ende des Zauns. Den Schmerz versuche ich zu ignorieren und ziehe mich weiter hoch. Langsam versuche ich mich auf dem Draht abzustützen, ehe ich hinunterspringe. Meine Hände sind voller Blut. Meine Füße bluten ebenfalls. Doch dieser Schmerz kann mich nicht aufhalten. Ich bin endlich frei. Meine schmerzenden Füße tragen mich durch den Wald. Ich renne einfach weg von dem Ort, welcher mich jahrelang gefangen hielt. Obwohl ich mich in einem riesigen Wald befinde und ganz auf mich allein gestellt bin, ohne zu wissen wohin ich renne, habe ich keine Angst. Dies könnte ein Neustart für mich werden. Ich werde jede Chance nutzen. Ich komme auf einer riesigen Lichtung an. Kein einziger Baum steht hier und doch ist alles grün. Meine Schritte werden langsamer, bis ich mitten auf der Lichtung stehen bleibe und mich umschaue. Auf meinen Lippen bildet sich ein Lächeln, als ich langsam über die Wiese tanze. Ich fühle mich einfach frei. Mehrere Wolken ziehen auf und kurz darauf folgt der Regen. Nicht mal der Regen kann mir den Triumph der Freiheit nehmen. Ich tanze weiter über das Gras, auch wenn dieser nass ist. Mehrere Minuten, Stunden tanze ich hier nun schon. In der Psychatrie hatte ich nie diese Freiheiten. Der Wald schien so ruhig und auf eine Weise auch magisch. Doch gerade als ich diesen Gedanken beendet habe, höre ich einen Schuss. Allerdings nicht nur einen, darauf folgen weitere. Die Panik kommt in mir hoch. Haben sie gemerkt, dass ich abgehauen bin? Bevor ich es überhaupt realisieren kann, renne ich über die Lichtung und direkt in den tiefen Wald. Immer wieder höre ich Schüsse, jedoch kann ich nicht beurteilen aus welcher Richtung sie kommen. Ich habe das Gefühl sie kommen näher. Sie verfolgen mich. Ich schaue einmal nach hinten, jedoch kann ich nichts erkennen. Mein Fuß bleibt an einer Wurzel hängen und ehe ich mich versehe, falle ich schon einen Hang hinunter. Dabei drehe ich mehrmals und mache auch ein paar Überschläge. Doch dieser Sturz kann mich nicht aufhalten. Ich stehe langsam wieder auf und sehe mich um. Ich entdecke einen kleinen Tierbau, bei welchem ich nun ein Versteck suche. Die Schüsse sind mittlerweile verstummt, jedoch vernehme ich Schritte, die sich auf mich zu bewegen. Ich halte den Atem an. Mein Herz schlägt wie verrückt. Sie dürfen mich nicht finden.

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