Lockwood hatte mir tatsächlich, sogar ohne weitere Beschwerde einen Tee gemacht. Es war mittlerweile ziemlich spät geworden und draußen wurde es bereits dunkel. Von George gab es immer noch keine Spur. Wir hatten unsere Getränke mit in die Bibliothek genommen und warteten ungeduldig auf Neuigkeiten. Ich saß mit überkreuzten Beinen in einem unserer alten Sessel und blätterte gelangweilt in einem zerlesenen Krimi. Lockwood laß ebenfalls, jedoch kein Buch sondern eine seiner liebsten Klatschmagazine. Mal wieder eins über die schöne und reiche Gesellschaft Londons. Mich interessierte das herzlich wenig, aber Lockwood wollte immer auf dem laufenden bleiben.
Eine halbe Stunde später war es draußen völlig dunkel und ich begann mir Sorgen zu machen. Zu allem Überfluss hatte es jetzt auch noch angefangen zu regnen. "Glaubst du er bekommt kein Nachttaxi?", fragte ich besorgt in die Stille hinein.
"Kann ich nicht sagen. Vielleicht braucht er auch einfach mal wieder viel zu lange für seine Recherche.", erwiederte Lockwood und lächelte mir beruhigend zu. "Hoffentlich hast du recht. Um diese Zeit ganz allein draußen zu sein wünsche ich nicht mal Kipps."
"Ach bei dem fliehen die Geister doch schon von weitem. Jetzt mach dir nicht so viele Gedanken."
Wenn ich Lockwood nicht so gut gekannt hätte, dann wäre ich vielleicht auch auf sein unbeschwertes Verhalten hereingefallen, aber ich wusste, dass er sich ebenfalls Sorgen um George machte und das mindestens so sehr wie ich.
Beim langen warten musste ich eingenickt sein, denn als ich meine Augen öffnete und blinzelnd ins Licht starrte, war Lockwood weg. Vorsichtig setzte ich mich auf und bemerkte dabei die dünne Wolldecke, die über mir gelegen hatte. Gerührt schmunzelte ich. Im Inneren war Lockwood eben doch ein kleiner Softie. "Lockwood?", rief ich in die Stille hinein. Nichts. Dann hörte ich das Leuten unserer Klingel und rannte zur Tür.
Lockwood war bereits dabei den Schlüssel im Schloss zu drehen. Er sah sich nicht einmal um, als ich auf den Flur trat und mich neben ihn stellte. Etwas näher als nötig, wie ich feststellte. Mir stieg sein angenehmer Duft in die Nase. Ich musste unbedingt herausfinden welches Parfüm er benutze. Dann hatte ich wenigstens Mal eine gute Geschenkidee für Weihnachten.
Ich griff vorsichtshalber nach einem der Degen in dem Schirmständer und Lockwood öffnete die Tür. Es war George, der völlig durchnesst vor der Tür stand. Seine Begrüßung war ein herzhaftes Niesen. Natürlich kam er sofort herein und tropfte alles voll. Außerdem schaffte er es, ich weiß heute noch nicht wie, Schlammspritzer auf so ziemlich allen Wänden im Umkreis von vier Metern zu verteilen. Selbstverständlich durften Lockwood und ich da auch nicht zu kurz kommen und bekamen ebenfalls eine Ladung Dreck ab. Schnaufend wie eine Dampfmaschine zog George sich die Jacke aus und kickte seine Schuhe in die nächste Ecke. Zum Vorschein kam eine wirklich sehr dünne Klemmmappe, die er wohl unter seinem Pullover transportiert hatte.
"Du meine Güte George! Was ist dir denn passier?", fragte ich ein wenig überrumpelt.
"Warum hast du dir kein Nachttaxi genommen?", fügte Lockwood fast zeitgleich hinzu.
George nieste noch einmal und sah uns mitleiderregend an. "Glaubst du wirklich, dass hätte ich nicht versucht?"
"Armer George! Komm ich mach dir einen Tee.", rief ich aus und ging voran in die Küche.
"Wow, Luce. Womit habe ich das denn verdient?", fragte er und lachte. Leider ging sein Gelächter in einen mittelschweren Hunstenanfall über und ich musste mit meiner Erwiederung eine ganze Weile warten.
"Ich habe heute einfach mal einen meiner netten Tage, außerdem, tut mir leid, wenn dich das kränkt, siehst du echt furchtbar mitgenommen aus."
"Zu freundlich, aber das Kompliment kann ich nur zurückgeben."
"Sei lieber nett zu mir, sonst tue ich dir Salz in den Tee.", erwiederte ich lachend. Die beiden Jungs hatten sich an den Küchentisch gesetzt und ich begann für uns alle die Getränke zu zubereiten. George unterbrach die Stille immer wieder mit einem ohrenbeteubenden Niesen und ich zuckte jedes Mal erschrocken zusammen.
Endlich ergriff Lockwood das Wort: "Jetzt sag uns doch bitte schon mal, was du heraugefunden hast. Lucy und ich haben extra so lange auf dich gewartet und im Übrigen warum bist du eigentlich so spät?"
"Ich habe den letzten Bus verpasst. Gerade als ich aus der Bibliothek kam, fuhr er mir vor der Nase davon. Dann wollte ich mir ein Nachttaxi rufen, doch der Typ meinte, dass er erst in frühstens zehn Minuten, aus denen im Übrigen dann doch eher zwanzig geworden sind, kommen könne. In der Zwischenzeit hat es begonnen wie aus Eimern zu schütten und ich stand da und hatte nicht einmal einen Schirm. Als das Taxi dann endlich da war und ich sagte, wohin ich wolle, meinte dieser Banause von Fahrer, dass er bald Feierabend habe und er mich aber sehr gerne in die Nähe von meinem Ziel bringen könne.", George seufzte abgrundtief und zog dann geräuschvoll seine Nase hoch. "Jedenfalls hatte ich keine Lust noch einmal eine halbe Stunde auf das nächste Taxi zu warten und ließ mich vier Straßen weiter absetzten."
Ich gähnte und stellte den beiden ihren Tee hin. "Und was hast du herausgefunden?", fragte Lockwood interessiert.
"Das ist ja mal wieder typisch!", echauffierte sich George. "Ich komme nach Hause und bin völlig fertig und durchnässt bist auf die Knochen und meinem werten Herrn Chef fällt nichts weiter ein als zu fragen, was ich herausgefunden habe."
"Also hast du nichts?", fragte ich enttauscht. Immer wenn George etwas spannendes entdeckte plagte er einen damit so lange, bis man es schließlich über sich ergehen ließ. Es war also schon auffällig, dass er heute nicht mit der Sprache rausrücken wollte. Seine finstere Miene bestätigte meine Vermutung.
"In der Tat, Lucy. Ich habe kaum etwas herausfinden können. Um genau zu sein nichts! Das Heim sieht zwar von außen mehr als horrormäßig aus, aber tatsächlich scheint es laut den Geschichten darüber völlig harmlos zu sein. Es gab nicht einmal erschreckende Krankheitsfälle oder auch nur ein verschwundenes Kind. Das Einzige, was interessant sein könnte ist die Tatsache, dass dieses Wiesenhaus schon seit vielen Jahren betrieben wird. Die frühsten Berichte stammen aus dem 18. Jahrhundert. Allerdings scheint es unwahrschinlich, dass undokumentierte Fälle von dahmals erst heute zum Vorschein kommen. Findet ihr nicht?"
"Das klingt wirklich nicht besonders aufregend.", sagte Lockwood enttäuscht. "Naja, auch wenn wir damit nicht die Schlagzeilen der Times sprengen werden, würde ich sagen, dass wir jetzt alle schlafen gehen, damit wir morgen Nacht fitt sind und dem Klienten, dann das 'Okay' geben können."
DU LIEST GERADE
Geisterschimmer
FantasyLockwood & Co haben einen neuen Fall, der sie in ein altes Waisenhaus führt. Spielt nach dem zweiten Buch, hat allerdings nichts mit den weiteren Handlungen in den Folgebänden zu tun. Über eure Meinungen würde ich mich wirklich freuen. Schon mal vie...