Geisterschimmer

6. Kapitel

Ich japste auf, kehrte der Gestalt den Rücken zu und rannte, wie ich selten in meinem Leben gerant bin, die Treppenstufen hinauf. Die Tür klemmte und ich warf mich in meiner Panik mit dem ganzen Körpergewicht dagegen. Sie sprang auf und ich stürmte zu dem ersten Kreis, dem vor der Treppe zum Ersten Stock.
"Lockwood!", brülle ich noch einmal aus vollem Hals.
"Luce?!"
"Lockwood!", vor Erleichterung seine Stimme zu hören traten mir Tränen in die Augen. "Der Geist ist hier! Geh in einen Bannkreis!"
"Wo steckst du? Ich suche dich schon die ganze Zeit."
Seine Stimme kam von oben. Das war gut. Er war also schön weit weg von dem Besucher. Aber was zur Hölle machte er da? Sollte er nicht im Keller sein und den Bannkreis auslegen?
Ich hörte Schritte aus dem Keller und ein sachtes Streichen, als würde jemand mit der Hand an der Wand entlang fahren. Dann knallte die Kellertür. Und dann, nur einen Atemzug später, alle anderen Türen des Flurs, die noch offen gewesen waren.
"Luce!"
Ich wandte meinen Blick von der Kellertür ab und sah die Treppe hinauf. Dort stand Lockwood und sah mich mit blassem Gesicht und besorgter Miene an. Einen Moment schloss ich vor Erleichterung die Augen. Er lebte!
Es knackte direkt vor mir. Erschrocken riss ich die Augen wieder auf und starrte einem Geisterjungen nur einen Meter entfernt in die kalten Augen. Er stand neben der Eisenkette und sah mich an.
Sein Alter war schwer einzuschätzen, aber ich hätte nicht mehr als zwölf vermutet. Vorsichtig, als könnte die Berührung ihn verbrennen streckte er eine seiner zarten Hände nach mir aus. Da erst bemerkte ich die blutigen Wunden auf seinem Oberkörper.
"Was hat man dir nur angetan?", fragte ich entsetzt. Es waren vier. Vermutlich Stichwunden. Mein Blick wanderte wieder zu den Augen des Jungen.
"Ich hätte nichts verraten."
"Was hättest du nicht verraten?", fragte ich und trat etwas näher an ihn heran, jedoch darauf bedacht den Bannkreis nicht zu verlassen.
"Lucy, pass auf!", rief Lockwood und warf einen Beutel Eisenspähne vor die Füße des Geisterjungen. Plasma spritze und ein schauriges Geistergeheul ertönte.
"Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du nicht mit ihnen reden sollst?", fuhr Lockwood mich an. Er war die Treppe hinunter gekommen und stellte sich zu mir in dem Bannkreis. Anstatt zu antworten warf ich ihm meine Arme um den Hals und drückte ihn zitternd vor Freude, dass er wirklich unversehrt war an mich.
"Lucy, was ist denn?", fragte er erstaunt und legte seine Arme sanft um mich.
"Was los ist?", rief ich entgeistert und löste mich von ihm. Zörnig sah ich zu ihm auf. "Ich habe dich gerufen und du hast nicht einmal geantwortet. Dann bin ich in den Keller gegangen, doch auch da konnte ich dich nicht finden, sondern habe nur mit dem netten Jungen hier Bekanntschaft gemacht. Ich dachte wirklich er hätte dich..." Weiter kam ich nicht, da meine Stimme zu sehr zitterte.
"Aber Lucy!", rief Lockwood aus und nahm mein Gesicht in seine Hände, damit ich ihm in die Augen sah. "Ich habe dein Rufen nicht gehört. Als ich gesehen habe, wie du oben mit dem Bannkreis zu tun hattest, bin ich, nachdem ich im Keller fertig war, noch einmal in die anderen Räume gegangen. Stell dir vor, ich habe einen Todesschein entdeckt. Rate mal wo!"
"Wo?", fragte ich nur. Mir war jetzt nicht nach solchen Spielen zu Mute. Dafür hatte ich gerade zu viel Angst um ihn gehabt.
"Im Büro der Hausdame. Natürlich wollte ich es dir sofort erzählen, könnte dich aber nicht finden. Da bin ich nach oben gegangen, weil ich dachte du hättest dich vielleicht auch noch einmal umschauen wollen."
"Nein, ich habe im Keller nach dir gesucht. Und von wegen der Keller sei nicht der schlimmste Ort des Hauses!"
"Gut in dem Fall hast du wohl recht.", sagte Lockwood lächelnd und ließ mich los. Aber nicht ohne vorher noch eine meiner kurzen Haaresträhnen hinter mein Ohr zu streichen.