Sechster Lieblingsmensch

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Orange. Das war der einzige Gedanke, den Jimmys Kopf durchkreuzte, als er eine Frau sah, die auf den Eingang des Friedhofes zusteuerte. Orange würde an der Dame fabelhaft aussehen. Er wollte die Farbe unbedingt zu Gesicht bekommen.

Also näherte er sich ihr und stellte die Frage: »Wer ist dein Lieblingsmensch?«

Auf das Zusammenzucken folgte das Umdrehen, wodurch Jimmy erstmals ihren Gesichtsausdruck erkennen konnte. Es sah aus als würde sie gleich anfangen zu weinen, weshalb er bereits in seiner Hose nach einem Taschentuch kramte. Doch seine Hände waren so kalt, dass er sie kaum spürte.

»Magst du mich bitte alleine lassen? Geh nach Hause oder spiel mit deinen Freunden. Es ist der letzte Ferientag, meinst du nicht, dass man den mit etwas Besseren verbringen kann, als sich mit einer alten Frau zu unterhalten?« Die Dame war keineswegs alt, sie war vielleicht Ende vierzig und fit sah sie auch aus.

»Meine Eltern sind schon den ganzen Tag am Streiten und meine Freunde sind doch längst farbig«, antwortete Jimmy ehrlich.

»Farbig?« Fragend blickte sie zu ihm. Erst jetzt bemerkte er den Blumenstrauß, den die Frau in der Hand hielt.

Nickend erklärte Jimmy ihr sein Vorhaben. »Die Welt ist grau. Ich mag grau nicht. Ich finde, dass die Welt ihre alten Farben wieder annehmen soll. Du mit eingeschlossen.«

»Schätzchen, das ist nicht so einfach umzusetzen wie du denkst. Wie willst du das denn anstellen?« Wenn sie nur wüsste...

»Indem du meine Frage beantwortest.« Erwartungsvoll schaute er sie an.

»Gut«, nickend atmete die Frau ein. »Mein Lieblingsmensch ist meine Zwillingsschwester. Sie hat mich durch mein Leben begleitet, durch alle Tiefen und Höhen, durch Dick und Dünn, durch die Kindheit, Schulzeit, das Erwachsenwerden und Erwachsensein. Wir sind die besten Freunde, sind total unterschiedlich, aber verstehen uns super. Niemand kennt mich so gut wie sie es tut. Und niemand liebt mich so sehr wie sie. Sie hat Kinder, einen Mann, eine Familie, während ich nur ein paar gescheiterte Beziehungen aufzuweisen habe. Aber trotzdem nimmt sie sich Zeit für mich. Du musst wissen, wir wohnen nebeneinander. Oft esse ich mit ihnen oder passe auf ihre Kinder auf. Ich gehöre zu der Familie dazu. Und obwohl meine Schwester viel zu tun hat, ist sie immer für mich da. Als unsere Eltern gestorben sind, als ich mich von meinem Ex getrennt habe, als ich gefeuert worden bin. Zurzeit geht es für mich steil bergauf und das habe ich ihr zu verdanken. Ohne sie hätte ich schon längst aufgegeben.«

»Wow.« Jimmy wusste gar nicht, was er sagen sollte. Seinen zehn Jahre älteren Halbbruder hatte er das letzte Mal vor zwei Jahren gesehen und Kontakt bestand so gut wie keiner. »Das freut mich wirklich sehr für dich. Sag es deiner Schwester. Sag ihr, dass sie dein Lieblingsmensch ist.«

»Ach, sie ist gerade mit ihrer Familie verreist und hat sicher Besseres zu tun, als mit mir zu sprechen«, winkte sie ab.

»Nein. Sie ist deine Schwester. Sie wird sich riesig freuen. Stell dir vor, sie würde dir sagen, dass auch du ihr Lieblingsmensch bist. Das würde dich doch total glücklich stimmen.«

Die Frau nickte überzeugt. »Du hast recht. Das wäre- wow.« Einen Moment schien sie in Gedanken versunken zu sein. »Jetzt verstehe ich wie du den Menschen ihre Farben zurückgeben wolltest. Du bist ein cleverer Junge. Und noch so jung. Deine Eltern können stolz auf dich sein. Wo sind sie überhaupt?«

»Zu Hause«, antwortete Jimmy knapp. Es gab deutlich bessere Gesprächsthemen als seine Eltern.

»Willst du nicht auch lieber nach Hause gehen? Du wirst noch krank, wenn du länger draußen bleibst.« Sorgenvoll betrachtete die Dame den Jungen.

Er schüttelte bloß den Kopf.

»Du weißt schon, dass du es nicht schaffst, die gesamte Welt farbig zu machen. Das ist unmöglich.«

»Aber liegt nicht in dem Versuch, das Unmögliche möglich zu machen, erst der Reiz?«

Als einzige Antwort schenkte die Frau ihm ihre Handschuhe und ein Lächeln, von dem ausgehend sich das Orange langsam, aber sicher verbreitete und für einen Augenblick auch Jimmy einhüllte.

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