Das Orange blieb noch ziemlich lange, länger als alle andere Farben. Jimmy schmunzelte bei dem Gedanken daran, irgendwann eine eigene Familie zu haben, in der man sich die verrücktesten Geschichten erzählte, zusammen lachte, zusammen weinte, und sich in allen Bereichen unterstützte. Er wäre ein guter Vater. Sein Sohn würde nicht flüchten, weil er es zu Hause nicht mehr aushielt. Mit der richtigen Frau hätte er keinen Grund zu streiten, jedenfalls nicht so sehr, wie es seine Eltern taten. Er würde ihr und seinen Kindern zeigen, was es heißt, zu lieben. Er wäre für sie da.
Das Bellen eines Hundes riss Jimmy aus seinen Gedanken. Ziemlich lange war er ohne wirkliches Ziel durch die Straßen gelaufen, ohne auch nur einer Menschenseele zu begegnen. Doch wo ein Hund war, war der Besitzer nicht weit. Dieser saß hierbei nur ein paar Zentimeter neben dem schwarzen Labrador mit dem pinken Halsband, auf einer Decke, in eine weitere eingewickelt. Er hatte einen langen Bart und lange Haare, hinter denen sich eine traurige Miene versteckte.
Sofort richtete sich der Hund auf und schnupperte an Jimmys Schal, woraufhin der Mann etwas grummelte. Er schien nicht sonderlich gut drauf zu sein.
»Was treibst du dich hier in der Kälte herum? Geh lieber rein, du wirst ja noch krank«, murmelte er emotionslos. Er war so tiefgrau, dass selbst das pinke Halsband in seiner Nähe farblos wurde.
Jimmy nickte nur und stellte ihm danach die Frage, die alles ändern sollte. Es würde auch dieses Mal funktionieren, da war er sich sicher. »Wer ist dein Lieblingsmensch?«
Verwirrt blickte der Mann auf. »Geht es dir gut? Du bist bestimmt schon unterkühlt.«
»Nein, mir geht's bestens«, log er. Wie es ihm ging, wusste er gar nicht so genau. Aber das war auch nicht wichtig. Denn was er wusste, war, dass es darum jetzt gar nicht ging. »Ich möchte bloß diese eine Frage von dir beantwortet haben.«
Der Mann atmete eine hellgraue Wolke aus. »Ich habe keinen Lieblingsmenschen, so einfach ist das. Würdest du jetzt bitte nach Hause gehen? Ich will nicht den Krankenwagen rufen müssen.«
Jimmy ignorierte die unnötigen Bemerkungen des Mannes und reagierte nur auf die wichtige. »Denk nochmal nach. Du hast mit Sicherheit einen Lieblingsmenschen.«
Gleichgültig, aber auch mit einem Hauch von Trauer, schüttelte er den Kopf. »Das Verhältnis zu meinen Eltern ist schlecht und meine Freunde haben sich alle von mir abgewandt, als sie erfuhren, dass ich mir keine Wohnung mehr leisten kann und auf der Straße wohnen werde.«
»Das tut mir leid. Dir ist sicher kalt. Möchtest du meinen Schal haben? Ein netter Junge hat ihn mir geschenkt.«
»Nein, behalte den bloß. Ich habe genug Decken und Pullis hier.«
Für einen kurzen Moment herrschte Stille zwischen den beiden. Dann fiel Jimmy wieder ein, weshalb er eigentlich hier war, und führte das Gespräch weiter: »Und du hast wirklich keinen Lieblingsmenschen?«
»Nein. Sie haben mir alle den Rücken zugekehrt und mich enttäuscht.«
»Aber einer hat doch immer zu dir gehalten, oder?«, fragte Jimmy und deutete auf den Hund.
Der Mann lächelte schwach. »Du hast recht. Sie ist mir am allerwichtigsten von allen Lebewesen dieser Erde. Selbst in den härtesten Zeiten ist sie geblieben.«
»Dein Lieblingswesen also?«, fragte er schmunzelnd nach.
Nickend streichelte er den Labrador und schmiegte sich an ihn.
»Gib die Hoffnung nicht auf. Es wird sich alles zum Guten wenden. Und sei dankbar für das, was du hast«, erwiderte Jimmy, kurz vor dem Gehen.
»Das bin ich. Du bist ein guter Junge, danke für das Gespräch.« Der Obdachlose kramte in seiner Tasche und reichte ihm ein Stück Brötchen hin. »Du hast sicher schon Hunger, und heute hat doch kein Supermarkt offen.«
Dankend griff Jimmy nach dem Brot und erinnerte sich daran, in seiner Hosentasche noch einen Zehn-Euro-Schein zu haben, der Teil seines Weihnachtsgeschenkes war. Ohne darüber nachzudenken, was er sich damit alles kaufen könnte, gab er dem Mann das Geld, denn er konnte es besser gebrauchen als er.
Und tatsächlich gewann das Grau an pinker Farbe und übertönte damit sogar das Halsband des Hundes. Der Mann fragte Jimmy nach einer Umarmung, schließlich habe er so lange niemanden mehr umarmt, und Jimmy drückte ihn so fest er konnte.
»Ich komme dich bald wieder besuchen«, versicherte er ihm, nachdem er auch den Hund umarmt hatte, und machte sich wieder auf den Weg. Die Antwort des Mannes konnte er nicht mehr hören, so weit weg war er schon, aber den pinken Schimmer sah er noch immer, was ihm Hoffnung gab. Er würde ebenfalls eines Tages Farbe in sich tragen. Wenn der Mann das konnte, schaffte Jimmy das auch.
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Lieblingsmensch
Short StoryDie Welt war grau. Jimmy hasste diese Farbe. Er wollte nichts lieber, als die Menschen wieder in den ursprünglichen Farben leuchten zu sehen. Und er wusste auch schon, wie er das anstellen würde. Naja, bei allen, außer sich selbst.