Zehnter Lieblingsmensch

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Jimmy hatte vorgehabt, nach Hause zu traben, einen weiteren Versuch zu starten, sein Buch zu lesen, und vielleicht sogar die Küche betreten zu können, um sich einen Kakao zu machen. Jimmy hatte vorgehabt, aufzugeben. Er hatte es geschafft, neun Menschen Farben zu verleihen, doch hatte sich selber dabei bloß noch tiefer im Grau verloren.

Jimmy hatte vorgehabt, das Grau zu akzeptieren. Es gehörte nun mal zur Menschheit dazu. Und dagegen schien er nichts mehr machen zu können.

Wäre da nur nicht Julie gewesen. Vom Küchenfenster aus hatte sie ihn gesehen - oder besser gesagt das Grau, das ihn umgab. Sofort war sie aus dem Haus gestürmt, bloß in einem dicken Pulli, einer Stoffhose und den Hausschuhen gekleidet.

»Jimmy!«

Allein schon der Klang seines Namens ließ die graue Wolke etwas schrumpfen. Erschrocken drehte er sich zu Julie um, dem Mädchen, neben dem er das gesamte letzte Schuljahr gesessen hatte. Er glaubte seinen Augen kaum, als er sie sah. In den buntesten Farben strahlte sie, dabei hatte er ihr doch gar nicht seine Frage stellen können.

»Julie, was machst du denn hier? Ist dir nicht kalt?« Sofort legte Jimmy ihr seinen Schal um, den der nette Junge ihm geschenkt hatte.

Doch Julie dachte gar nicht daran, auf ihn einzugehen. Stattdessen stellte sie ihm eine ganz simple Frage: »Wer ist dein Lieblingsmensch?«

Jimmy konnte nicht anders, als seine Augen aufzureißen. »Woher- wie? Wa... Warum stellst du mir diese Frage?«

»Meine Mutter hat mich das gefragt. Sie wurde das Gleiche beim Einkaufen gefragt, von einem jungen Ehepaar, das das von einer alten Dame gefragt wurde. Sie hat behauptet, dadurch würde die Menschheit ihre ursprünglichen Farben zurückerlangen. Ist das nicht toll? Mama meinte Papa und ich seien ihre Lieblingsmenschen. Und dann hat sie mir die Frage gestellt. Deshalb bin ich hier.« Sie machte eine kurze Pause, um nach Atem zu schnappen. »Du bist mein Lieblingsmensch.«

Ein Lächeln breitete sich auf Jimmys Gesicht auf. »Danke, Julie. Ich habe dich auch am meisten lieb von allen Menschen auf dieser Erde.«

Julie griff als Antwort nach Jimmys Hand und drückte sie fest. Das Grau wurde langsam, aber sicher vertrieben und schon nach einigen Augenblicken strahlten die Farben von Julie mit denen von Jimmy um die Wette.

Hand in Hand liefen die beiden durch die Wohngegend, wohin genau, wussten sie selbst nicht. Überall begegneten sie Menschen, die es ebenfalls geschafft hatten, das Grau abzulegen, oder denen sie halfen, dies zu tun.

Jimmy war überwältigt von dem Spektakel, das sich ihm bot, und trotzdem kamen die Farben nicht gegen die Farbexplosion an, die sich in seinem Bauch ausgebreitet hatte, seit Julie seine Hand hielt.

Und sie wurde noch größer, als er ihr einen Kuss auf die Wange gab und das Lächeln auf ihrem Gesicht sah; so breit, dass es jegliches Grau der Welt übertönte und alles - jeden Ast, jeden Stein, jeden Menschen - in Farbe einhüllte.

Und plötzlich hatte er das Unmögliche möglich gemacht.

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Das war »Lieblingsmensch.« Danke an alle Leser, Sternchenverteiler und Kommentareschreiber!

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