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„Du schläfst zu wenig.", stellte Alister drei Tage später fest, „Sagt dein Bruder denn nichts dagegen?"
„Nein, er bemerkt es ja gar nicht."
„Das ist nicht okay. Warum bemerkt er es nicht? Du siehst aus wie eine Leiche."
„Danke."
„Eine äußert attraktive Leiche natürlich.", fügte er hinzu. Kjartan versuchte nicht rot zu werden, aber es scheiterte kläglich.
„Ach komm. Nicht gleich rot werden, ja? Ich will zumindest wirklich mal deinen Bruder kennen lernen und ihm meine Meinung sagen."
„Bitte, alles nur das nicht."
Alister lachte, wurde dann aber ernst, „Aber ich meine es ernst. Ich würde deinen Bruder und die Anderen gerne kennen lernen."
„Ich glaube nicht, dass ihr euch verstehe würdet."
„Sicher? Du weißt, ich kann sehr charmant sein, wenn ich will."
„Genau das ist das Problem", murrte Kjartan, „du wärst ihnen wahrscheinlich zu perfekt."
„Uuuund trotzdem wirst du mich nicht mehr lange von deiner Familie fernhalten können."
"Ich weiß, aber ich kann es versuchen.
An diesem Tag ging Kjartan nicht direkt nach Hause. Stattdessen besuchte er den alten Schrottplatz. Er war immer verlassen und Kjartan hatte schon lange überlegt hier herzugehen. Eigentlich wollte er ihn mit Alister erkunden, aber er hatte etwas vor, was nur für seine eigenen Augen bestimmt war. Sobald er sich sicher war, dass ihn niemand beobachte konnte, ließ er eine kleine Flamme an seiner Fingerspitze erscheinen. Sie leuchtete orange und war angenehm warm. Er konzentrierte sich mehr auf die Hitze, die von einer wirklich heißen Flamme ausging. Er erinnerte sich an das letzte große Feuer, was er gesehen hatte. Die Hitze, die leuchtende Farbe, die Kraft die ihn durchströmt hatte. Seine Flamme wurde größer, größer als je einer seiner Flammen zuvor. Sie wurde wärmer und inzwischen leuchtete sie rot. Er versicherte sich noch einmal, dass niemand da war. Dann konzentrierte er sich stärker. Das Knacken der Holzscheite, der Gesang, den er gehört hatte. Seine ganze rechte Hand war nun in Feuer gehüllt. Er spürte ihre Wärme, aber es wurde ihm nicht zu heiß. Er genoss es. Kjartan vergaß alle seine vorherigen Sorgen und nur noch das Feuer füllte seinen Kopf. Dann ließ er es seinen Arm hochwandern. Mit Freuden stellte Kjartan fest, dass seine Kleidung nicht verbrannte. Nun ließ er auch in seiner anderen Hand eine Flamme entstehen und Stück für Stück wanderte das Feuer über seinen ganzen Körper, bis er vollkommen eingehüllt war. Das Gefühl war berauschend. Angst, Freude und Wut überkamen ihn und wurden wieder schwächer. Kjartan atmete wieder tief durch und konzentrierte sich darauf, dass das Feuer wieder in seine Hände zurück kehrte. Quälend langsam erloschen die Flammen und das Feuer wurde kälter, zwischendurch musste er sich immer wieder ins Gedächtnis rufen, das er selbst nicht verbrennen konnte. Schließlich waren es nur noch zwei ersterbende Flammen, die auch vergingen. Kjartan lächelte und spürte wie er etwas anderes ausprobieren wollte. Er sah sich kurz um und entdeckte dann eine kleine Pfütze. Sie war schlammig, aber genau das, was Kjartan gesucht hatte. Er ließ seine Hand über ihr kreisen, ganz nah, so dass er fast das Wasser berührte. Seine Gedanken fühlten sich mit Schnee, Winter und Kälte. Er dachte daran wie es war, im Schnee zu liegen und seinen Atem sehen zu können. Über dem Wasser breitete sich eine hauchdünne Eisschicht aus. Kjartan machte weiter. Einmal hatte er Schnee ohne Handschuhe berührt. Das Eis wurde dicker und breitete sich auf den Rest der Pfütze aus. Kjartan spürte Hass, Ehrgeiz und Ruhe. Inzwischen war die ganze Pfütze zugefroren, aber das Eis breitete sich weiter aus und Kjartan spürte wie die Temperatur sank. Er bekam Angst, soweit hatte er nicht gehen wollen. Das Eis breitete sich schneller aus, als er wollte. Bevor Kjartan jedoch in Panik ausbrechen konnte, wurde es wärmer. Es musste die Angst gewesen sein, die das Feuer in ihm wieder hervorbrachte, und das Eis auf der Stelle schmelzen lies. Irgendwie doch zufrieden mit seiner Arbeit kehrte Kjartan dem Schrottplatz den Rücken zu und ging nach Hause. Er hatte sich noch nie so lebendig gefühlt und gleichzeitig so müde. Er wollte nicht mehr der Außenseiter in der Familie sein. Wenn er seine Kräfte erst mal beherrschte war er ihnen um einiges überlegen. Nur der Gedanke, dass er nun ein Geheimnis mehr vor Alister hatte quälte ihn. Aber er würde es verstehen, von allen Menschen hatte er ihn immer am besten verstanden.

Das Feuer und Eis in Mir #WordsAward2018Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt