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Nachdem ich den letzten Schluck meines dunklen Kaffees getrunken habe, wage ich mich an das letzte Kapitel für meine bevorstehende Biologieklausur. Schon als ich die ersten paar Sätze lese, stöhne ich innerlich auf. Auch noch das menschliche Nervensystem. Das einzige Thema, dass noch schlimmer als Mathe damals in der High School war.
Seite für Seite erstrecken sich komplizierte Zeichnungen, die von einem viel zu kleinen Text umrandet werden. Doch es hilft alles nichts. Die Klausur ist in zwei Tagen und jetzt kann ich nicht mehr aufgeben. Alle anderen Klausuren habe ich bereits hinter mir, da werde ich die Letzte wohl auch noch schaffen. Der Stuhl knarzt als ich meine Sitzposition wechsele und mich dann über das Buch beuge.
Nach einer gefühlten Ewigkeit sehe ich wieder auf die Uhr und erstaunlicherweise ist es schon fast sechs Uhr. In der Bibliothek ist es mittlerweile dämmerig und es sind nur noch sehr wenige Leute da. Ich beschließe, dass ich für heute genug gelernt habe und packe schnell und leise meine Sachen zusammen. Ich schiebe den Stuhl wieder ordentlich an den Tisch und gehe zügig zur Türe. Ich lächele den Empfangsdamen zu, winke kurz zum Abschied und stehe dann draußen. LAs warme Abendsonne begrüßt mich und sofort wird mir wärmer. In der Bibliothek war es richtig kalt im Vergleich zu diesem lauen Sommerabend.
Während ich zu meinem Auto gehe, fische ich mein Handy aus der Tasche. Ein paar unwichtige Nachrichten aus unserer Studentengruppe. Eine Nachricht von der Bank. Mein Kellnergehalt für diesen Monat ist erfolgreich auf meinem Konto eingegangen. Endlich. Mein Chef wird immer langsamer mit dem Auszahlen des Gehaltes, hat es aber immerhin vor der nächsten Gehaltszahlung noch geschafft. Und eine Nachricht von meiner Mutter. Wie immer kurz und prägnant. Dad erinnert sich.
Schon automatisch werden meine Schritte schneller und die letzten Meter renne ich förmlich zum Auto. Hektisch werfe ich meine Tasche auf die Rückbank und fahre sofort los. Gleich darauf stehe ich im Stau. Feierabendverkehr. Mein Hals wird eng und gleich darauf laufen mir kleine Tränen die Wange hinunter. Ich bin sauer, weil ich schon wieder im Stau stehe, es keinen Meter vorangeht und mir die Zeit im Nacken hängt.
Dad hat immer kürzere Phasen, in denen er sich erinnert. In denen er weiß, dass ich seine Tochter bin und Mum seine Frau. In denen er realisiert, dass er unheilbar krank ist und nicht kämpfen kann. In diesen Momenten ist er wieder mein Dad. Um mich herum hupen mehrere Autos und ich mache mit. Einfach um wieder etwas runterzukommen. Ich muss nach Hause. Schnell. Ich muss wenigstens ein paar wenige Minuten mit meinem Vater haben, in denen wir ganz normal miteinander sprechen können. Ich kann jetzt nicht zu spät kommen.
Doch es geht nichts. Nur wenige Zentimeter komme ich voran, bei jedem Stopp schält mein Auto automatisch in den Ruhezustand. Ich will es nicht realisieren, aber ich werde zu spät kommen. Mittlerweile wird er wieder mit glasigen Augen auf dem Sofa sitzen und keinen Ton mehr von sich geben. Da fangen die Tränen schon wieder an zu laufen. Warum kann nicht einmal alles gut gehen und kein Stau sein? Warum muss immer in solchen Momenten alles schief gehen? Voller Frust schlage ich auf die Hupe ein und mehrere antworten mir, als hätten sie das gleiche Problem.
Ich sehe mich etwas um, wische mir über das Gesicht und greife nach meinem Handy. Kein Polizeiauto in der Nähe. Mit Handy am Steuer erwischt zu werden möchte ich jetzt nicht auch noch.
Mit wenigen Berührungen rufe ich zu Hause an und hoffe, dass meine Mutter das Telefon nicht wieder verlegt hat und ich es wieder suchen muss. Es klingelt ein paar Mal, dann wird abgehoben.
„Familie Mayer, hier Linda, hallo?" kommt mir die zarte Stimme von meiner Mutter entgegen und ich muss etwas lachen. Egal wer anruft, sie meldet sich immer gleich. Mein Name steht auf dem Telefon und wahrscheinlich hat sie es auch gelesen und weiß, dass ich es bin und sie gleich mit mir reden könnte und nicht erst eine ewig lange Ansage machen müsste. Aber Gewohnheit ist nun mal Gewohnheit.
„Hallo Mum", erwidere ich und rolle einige Zentimeter weiter Richtung Ziel, „Wie geht es Dad?" Am anderen Ende der Leitung ist es kurz ruhig und ich erwarte schon das Schlimmste. Tränen brennen in meinen Augen und ich halte schnell eine Hand vor den Mund um ein Schluchzen zu unterdrücken. „Oh Liebes, es geht ihm wunderbar", trällert es mir aus dem Handy entgegen und mir wird unglaublich leicht ums Herz. Gott sei Dank. „Kann er ans Telefon kommen?" flüstere ich, denn zu mehr ist meine Stimme gerade nicht fähig.
Am anderen Ende der Leitung hört man ein Rauschen, dann höre ich die tiefe, beruhigende Stimme meines Vaters. „Hallo mein Schatz. Wie geht es dir?" Ich muss lachen und weinen gleichzeitig. Ich bin so unendlich erleichtert. Sein letzter klarer Moment liegt schon so lange zurück, die Ärzte hatten gedacht, dass er nie wieder Er sein würde. „Gut", krächze ich zurück und lehne mich etwas entspannter zurück. „Lernst du auch schön für deine Klausuren?" Natürlich muss das seine erste Frage sein. Als pensionierter Biologielehrer war er damals unglaublich stolz gewesen, als ich mich ebenfalls für die Lehre des Lebens entschieden habe. „Natürlich", erwidere ich, „Die Klausur ist übermorgen und das letzte Kapitel habe ich vorher fertigbekommen." In meiner Stimme schwingt Stolz mit, den kann ich mir einfach nicht verkneifen. Er soll wissen, dass ich mich anstrenge und kämpfe.
Der Verkehr nimmt langsam ab und allmählich kann man wieder konstant fahren. „Ich bin bald zu Hause Dad", sage ich und nehme die nächste Ausfahrt. Jetzt dauert es nicht mehr lange. „Das freut mich. Mum hält das Essen warm, heute war sie schneller als sonst mit Kochen", lacht es mir entgegen und gleich darauf hört man meine schimpfende Mutter im Hintergrund. Sie konnte es noch nie leiden wenn mein Vater sie aufzog.
„Hast du in deinen Ferien eigentlich etwas vor?" kommt es etwas unerwartet von ihm. Seine Stimme ist wieder ernst und ich weiß nicht genau, auf was er hinaus will. Hoffentlich will er mich nicht wieder loswerden, damit ich ihn nicht ertragen muss, wenn er geistig nicht mehr anwesend ist. Auch wenn ich wahnsinnig gerne verreisen würde, dafür auch schon Geld gespart habe, ich möchte bei ihm bleiben. Bei ihm und Mum. Denn sonst sind sie so alleine und ich würde für immer mir die Schuld geben, wenn irgendetwas passieren würde.
„Nein", gebe ich etwas unsicher zurück und warte schon darauf, dass er mich abschiebt. Doch er bleibt still. Ich biege in unsere Straße ein, winke unseren Nachbarn zu und fahre in unsere Einfahrt. Ich will gerade aussteigen um ihn endlich in Person vor mir stehen zu sehen, da redet er wieder.
„Ich möchte deinen Bruder besuchen."
Das Handy fällt mir aus der Hand, den Schlüssel ziehe ich so abrupt aus dem Schloss, dass mein Auto abwürgt.

Das kann nicht sein Ernst sein.

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Hallo und Herzlich Willkommen zu meiner Geschichte. Ich hoffe, dir hat das Kapitel gefallen und du bist gespannt, wie es weitergeht!

The Moonlight and YouWo Geschichten leben. Entdecke jetzt