1. Spiegelbild

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Lasst mich eine Frage stellen: was genau hat eine junge Frau um drei Uhr morgens auf dem Hausdach ihrer Nachbarn verloren? Die Antworten können variieren. Vielleicht ist sie Schlafwandlerin? Vielleicht ist ihre Katze versehentlich aus dem geöffneten Fenster gehüpft und sitzt nun verängstigt auf den verregneten Dachziegeln? Vielleicht hat sie Schlafprobleme? Aber ganz ehrlich, wer begibt sich aufgrund dessen nachts auf ein nasses Dach in Lebensgefahr, anstatt in der Küche einen heissen, schläfrig machenden Tee zu trinken und dabei in eine Decke gekuschelt an der warmen Heizung zu stehen?

Richtig, ich.

Der eisige Wind bläst mir vereinzelte Haarsträhnen ins Gesicht. Mein Blick schweift über die in der Dunkelheit liegende Stadt. Vereinzelt brennt Licht hinter den Fenstern. Ob die Menschen dort auch nicht schlafen können? Ob sie auch von den tiefsten Abgründen ihrer Seelen wach gehalten werden? 

Wer weiß das schon. 

Bis auf das Rauschen des Windes ist es still. Noch ein kalter, regnerischer Tag im September. Noch eine schlaflose Nacht, die ich auf dem Dach verbringe. Wieso ich das tue? Weil das der einzige Ort ist, so absurd es auch klingen mag, der mir ein Gefühl von Sicherheit gibt. Schon in meiner Kindheit bevorzugte ich es, gegen den Willen meiner Eltern, mich nachts in den Garten zu schleichen und in eine Wolldecke geschlungen auf den kalten Gartenmöbeln zu übernachten.

Ich ziehe die Kapuze meiner Sweatshirtjacke enger um meinem Kopf. Schon oft hatte ich mein Verhalten hinterfragt. Schon oft wurde mir geraten, bei meinen Schlafstörungen einfach im Bett liegen zu bleiben und vielleicht ein Buch zu lesen. Einen Tee zu trinken. Etwas beruhigende Musik zu hören. Doch dies brachte mir nichts als Kopfschmerzen. Um herunterzukommen brauchte ich Einsamkeit. Dunkelheit. Stille. Nur mich selbst und die Nacht um mich herum.

An manchen Tagen sitze ich stundenlang hier. Bis zum Einbruch der Morgendämmerung. Bis ich genau weiß, wann es an der Zeit ist, mich auf den Weg zur Arbeit zu machen. An manchen Tagen jedoch vielleicht nur für höchstens eine Stunde. Ganz gleich wie lange ich hier sitze, sitze ich jede Nacht hier. Beobachte die Stadt, die unter mir liegt. Atme die eisige Nachtluft ein. Lasse mir den Wind durch mein Haar wehen. Erhole mich von meinem Tag, meinen Gedanken, meiner Vergangenheit, einfach von allem. So lange, bis mich die Realität wieder einholt, mich packt und mitreißt. Mich langsam verschlingt und ich keine Chance habe, ihr wieder zu entfliehen und mir keine andere Möglichkeit bleibt, als dieser ins Gesicht zu blicken.

Ich weiß, das Ganze klingt erstmal sehr düster, gar nicht so, wie man es von einer Psychologin vielleicht gewohnt ist oder erwartet hätte, aber lasst mich eines vorweg sagen: das hier ist erst der Anfang und es wird noch viel dunkler und grausamer, je mehr ich von mir selbst und meiner schwarzen, zersplitterten Seele preisgebe.

Als Veranschaulichung dessen eignet sich ein Spiegel, in dem man sich selbst betrachtet. Eingehend betrachtet. Jedes einzelne, noch so klitzekleine Detail genau zu Kenntnis nimmt. Jedes Haar, jedes Hautfältchen, jede Wimper, jede Pore. Das Spiegelbild ist gerade nichts als das genaue Abbild deiner selbst. 

Alles ist klar und deutlich zu erkennen - bis es zerbricht. Anfangs ist es nur ein Riss, ein klitzekleiner Riss der dein Spiegelbild in zwei Hälften teilt. 

Ein winziger Makel in deinem Abbild, aber immer noch zu erkennen. Aber auch dieser kleine Riss wird weiter zerbrechen. Aus einem Riss werden zwei. Aus zwei werden drei. Ein immer größer werdendes Spinnennetz aus Rissen und Sprüngen. Und dann, für einen kurzen Moment siehst du dich selbst im Spiegel als ein einziges zerrissenes, zersprungenes Bild.

Und dann?

Dann zerbricht es. Scherben platzen heraus, fallen klirrend zu Boden, zerbrechen erneut in kleinste Teilchen. Alles zerfällt, zerbricht, zersplittert. Bist du dann immer noch in der Lage dein Spiegelbild zu sehen? So wie es einmal war?

Nein. Dein Schicksal ist besiegelt. Das Glas zerbrochen. Jedes Ereignis, jede Tat, jeder Vorfall hat Auswirkungen auf das Glas deines Spiegelbildes. Früher oder später wird dieses zerbrechen, und es wird nichts weiter übrig bleiben als die Glasscherben deines zersplitterten Selbstbildes.

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