Emotionen

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Das Gesicht in den Kissen vergraben, lag Sakura lang ausgestreckt auf dem Bett. Die Finger ihrer rechten Hand umschlossen ihr Handy, und sie musste sich regelrecht dazu zwingen, nicht auf das Display zu sehen. Wenn Hinata geschrieben hätte, hätte sie es gemerkt. Aber Nachschauen schadete ja nicht...

Hastig klappte sie das Handy auf und auch sogleich wieder zu. Keine Nachricht von ihrer Freundin. Vielleicht sollte sie anrufen? Doch auch diese Möglichkeit erschien ihr nach längerem Überlegen verkehrt. Hinata würde sich schon bei ihr melden, wenn sie reden wollte. Frustriert schob sie das kleine Telefon unter ihr Kissen, um es nicht länger sehen zu müssen. Mit einem Seufzen drehte sie sich auf den Rücken und starrte an die Zimmerdecke. Hier und da waren kleine Löcher im Putz, an einigen Stellen hatte die weiße Farbe einen grauen Ton angenommen.

Sie rollte sich auf die linke Seite, starrte mit bösem Blick die Türe an und strich sich mit den Fingern ein paar verirrte Haarsträhnen aus dem Gesicht. Doch auch in dieser Position hielt sie es nicht lange aus. Rastlos warf sie sich umher, bis sie sich schließlich wütend aufsetzte und zu der kleinen Spiegelkommode in einer Ecke des Zimmers ging. Angespannt ließ sie sich auf den Hocker davor sinken und starrte in den ovalen Spiegel. Matte, grüne Augen starrten zurück.

Sakura wandte den Blick nicht von ihrem blassen Gesicht ab, betrachtete jede Einzelheit. Ihre Haut hatte in den zwei Wochen Krankenhaus einen ungesunden Farbton angenommen. Sie sah aus, als ob ihr schlecht wäre. Unter ihren Augen fanden sich schwache Augenringe. Die Wangen waren eingefallen. Zwar nicht so extrem, aber doch genug, um es mit einem flüchtigen Blick zu bemerken. Wütend verzog sie das Gesicht. Sie wandte die Augen nicht ab, als sie mit einer mechanischen Bewegung nach dem Puderdöschen griff und es aufschraubte. Langsam trug sie das Makeup auf ihre blasse Haut auf, in dem Verzweifelten Versuch, gesund zu erscheinen. Normal zu erscheinen. Immer mehr Makeup fand seinen Weg auf ihre Wangen und verdeckte die grundliegende Farbe. Nach dem Puder griff Sakura sich das Rouge und pinselte etwas davon auf ihre Wangen. Nicht viel, aber genug, um einen schwachen Farbschimmer daraufzulegen. Sie wandte sich ihren Augen zu, die sie noch immer so müde ansahen. Ohne lange zu überlegen griff sie nach dem Mascara und trug ihn auf ihre langen Wimpern auf. Nach wenigen, geübten Handgriffen war sie fertig.

Stumm betrachtete sie das Bild, dass sie nun im Spiegel sah. Helle Haut, schwach gerötete Wangen und große, schimmernde Augen. Sakuras Blick glitt über ihr Spiegelbild, die Nase hinab, bis zu ihrem Mund. Minutenlang verharrte sie so, keinen bestimmten Gedanken folgend, bis sie schließlich zögernd die Hand hob und mit den Fingerspitzen zart über ihre Lippen strich. Wieder musste sie an den Moment im Krankenhaus zurückdenken.

Es war ein merkwürdiges Gefühl gewesen, das sie mit einer immer größer werdenden Intensität aus dem Dunklen riss, in dem sie sich befand. Langsam hatte sie ihr Bewusstsein wiedererlangt, die Kontrolle über ihre Sinne war zurückgekehrt, sie hatte ihren Körper wieder gespürt. Und noch etwas Anderes hatte sie wahrgenommen. Sie kannte das Gefühl, dieses Kribbeln in der Magengegend. Sie empfand es jedes Mal, wenn sie ihren Freund küsste. Sie hatte die Augen geöffnet, in der Annahme, es wäre er, der sie da berührte. Umso erschrockener war sie, als sie feststellen musste, dass es Hinata war. Zuerst war sie geschockt, konnte nichts tun. Dann wollte sie schreien, das Mädchen wegschubsen, sie verfluchen - doch sie schaffte es nicht. Die Flut von Empfindungen, die auf sie einprasselten, war mehr, als sie mit ihrem Freund jemals erlebt hatte, und brachte sie beinahe um den Verstand. Sie hatte alles überdeutlich wahrgenommen. Das Seufzen Hinatas, ihre weichen Lippen, den Geruch nach Flieder, der ihr immer anhaftete. Und als ein paar der seidigen blauen Haarsträhnen über ihr Gesicht strichen, weitete sich das Kribbeln in ihr auf ihren ganzen Körper aus. Sakura wünschte sich nichts mehr, als es zu beenden, doch gleichzeitig konnte und wollte sie nicht. Es fühlte sich einfach zu gut an.

Schlaff fiel ihre Hand zurück auf die Kommode. Schweigend musterte Sakura ihr Abbild, das sie mit einem verlorenen Ausdruck in den Augen ansah. In dem Moment, in dem Hinata den Kuss beendete, hatten neue Empfindungen dem Kribbeln Platz gemacht. Ein riesiges, schlechtes Gewissen. Die unstillbare Lust nach mehr. Und ein überwältigendes Gefühl von Verlust. Es fühlte sich an, als hätte Hinata, indem sie sich zurückgezogen hatte, nicht nur den Kuss gelöst und das kribbelnde Gefühl mit sich genommen, sondern auch eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen gezogen. Unwissentlich natürlich, aber trotzdem war es da. Der Vorfall hing wie ein Damoklesschwert über ihrer Freundschaft, baute sich drohend einem unüberwindbaren Berg gleich vor ihnen auf. Ein plötzlicher Stich durchfuhr Sakuras Herz. Es fühlte sich an, als hätte sie Hinata als beste Freundin verloren.

Hastig schlug sie sich die Hand vor den Mund, um das Schluchzen zu ersticken, das ihrer Kehle entweichen wollte. Ohne etwas dagegen tun zu können, sammelten sich Tränen in ihren Augen und liefen ihre Wangen hinab. Nach Luft ringend saß Sakura auf dem Hocker und betrachtete bebend das Bild, das sich ihr bot. Schwarze Wimperntusche vermischte sich mit den salzigen Tropfen, lief aus ihren Augenwinkeln und über ihr Gesicht. Stumm verfolgte sie die feuchten Spuren mit verschleiertem Blick. Dort, wo ihre Tränen entlangrannen, blieben schwarze Linien auf ihrer blassen Haut zurück. Der Puder wurde weggenommen, ebenso das Rouge, der Mascara, einfach alles. Zurück blieb eine weinende, junge Frau mit kränklich blasser Haut, die teilweise noch mit Makeup Rückständen bedeckt war, einer zerbrochenen Maske gleich.

Gerade hatte sie begonnen, sich etwas zu beruhigen, als ein neuerlicher Weinkrampf sie schüttelte. Sie schlang die Arme um ihren bebenden Körper und sank schluchzend in sich zusammen. Ihre Stirn ruhte auf dem kühlen Holz der Kommode, auf dem sich nun ihre funkelnden Tränen sammelten. Sie wollte ihr Spiegelbild nicht länger sehen.

Ein plötzliches Klingeln riss sie aus ihrer Verzweiflung. Erschrocken fuhr sie auf und sah sich suchend um, bis sie begriff, dass es ihr Handy gewesen war. Sakura sprang so hastig auf, dass der Hocker krachend umstürzte, doch es war ihr egal. Mit zwei großen Schritten durchquerte sie das Zimmer, sprang auf das Bett, wo sie das Kissen beiseite schleuderte, und griff nach dem schwarzen Telefon. Sie kniete sich hin und klappte es mit bebenden Fingern auf. Sie zuckte zusammen, als ihr Augenmerk auf den Absender fiel. Sie hatte es gehofft, und doch hatte sie gleichzeitig Angst davor. Sie biss sich heftig auf die Unterlippe, als sie zögernd mit dem Daumen auf Anzeigen drückte.

Hinata...

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