Aufgewacht

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Das Verlassen des Krankenhauses ähnelte einer Flucht. Unter anderen Umständen wären Hinata die verwirrten Blicke der Personen, denen sie entgegen kam, peinlich gewesen. Doch nun stürzte sie einfach an ihnen vorbei, so schnell ihre langen Beine sie trugen. Sie war noch immer schockiert, als sie mit schnellen Schritten die Eingangshalle durchquerte, durch die Drehtür huschte und quer über den Parkplatz zu ihrem Auto rannte. Schwer atmend, mit rasendem Herzen, ließ sie sich auf den Fahrersitz fallen, steckte mit zitternden Fingern den Schlüssel ins Schloss und startete den Motor. Mit einer heftigen Handbewegung legte sie den Rückwärtsgang ein und trat aufs Gas. Der Wagen machte einen Satz nach hinten, Hinata schlug das Lenkrad ein, und als sie in den ersten Gang schaltete und Gas gab, nahm sie beinahe den Kofferraum eines nahe stehenden Autos mit. Doch das war ihr egal.

Sie wollte nur noch weg.

Endlich hatte sie die unzähligen Tests überstanden.

Fertig angezogen, in eine dunkelblaue Röhrenjeans und ein grünes, weites T-Shirt gekleidet, saß sie da, im Warteraum des Krankenhauses. Sie hielt den Kopf gesenkt, ihr lockiges Haar verdeckte ihr Gesicht. Die Hände im Schoß gefaltet, eine blaue Sporttasche auf dem Stuhl neben sich stehend, verharrte sie. Und wartete.

Hinata lag ausgestreckt auf ihrem Bett und starrte benommen an die meerblau gestrichene Zimmerdecke. Ihre Augen folgten unsichtbaren Mustern, Mustern, die nur sie selbst sehen konnte. Die nicht da waren und irgendwie doch existierten. Die das Gesicht einer ganz bestimmten Person ergaben.

Mit einem leisen Seufzen schloss sie die Augen. Seit sie aus dem Auto gestiegen war, kreisten ihre Gedanken nur noch um sie. Ihre grünen Augen. Ihr blasses Gesicht. Ihre zitternde Stimme. Und ganz besonders um ihre weichen Lippen. Eine Träne rann aus Hinatas Augenwinkel und suchte sich langsam einen Weg ihre Schläfe hinab, nur um danach in ihren dunklen Haaren zu verschwinden. Was hatte sie nur getan?

Sie konnte Sakura nie wieder unter die Augen treten. Ihre beste Freundin würde sie für ihre Tat verachten. Ihre Familie, ach was, die ganze Welt würde sie verachten, würde abschätzend mit den Fingern auf sie zeigen und unverhohlen über sie spotten.

Immer schneller traten die Tränen unter Hinatas geschlossenen Lidern hervor, liefen über ihr Gesicht.

Wie könnte sie jemals wieder unter Menschen gehen? Sie hatte ihre beste Freundin geküsst.

Sie war abnormal.

Mit einem Schluchzen schnappte sie sich ihr Kissen und presste ihr Gesicht hinein, um den verzweifelten Schrei zu ersticken, der ihrer Kehle entwich.

„Sakura-san?" Fragend hob sie den Blick und richtete ihn auf die Krankenschwester. „Ja?", fragte sie leise. „Wir können sie nicht alleine gehen lassen. Wie sie wissen, ist es überhaupt ein Wunder, dass sie nach zwei Wochen Koma in einer so guten Verfassung sind", begann diese ohne großes Vorgeplänkel und ohne einen Blick auf das Klemmbrett zu werfen, dass sie in der Hand hielt. „Nichtdestotrotz sollten sie noch nicht alleine sein, da die Möglichkeit eines Rückschlags besteht. Könnten sie vielleicht - nicht lange, nur eine Woche - bei jemandem unterkommen, der ein Auge auf sie haben könnte?" Sakura zögerte einen Moment. Die erste, an die sie bei den mahnenden Worten dachte, war Hinata. Aber konnte sie ihrer Freundin das zumuten? Die Erinnerung an den Kuss, den sie von ihr erhalten hatte, war in ihr Gedächtnis eingebrannt. Noch immer fühlte sie ein sachtes Prickeln, wenn sie daran dachte, wie ihre Lippen sich berührt hatten. Es war befremdlich, unbekannt, verwirrend, und doch hatte es sich auf eine verdrehte Art und Weise gut angefühlt.

„Sakura-san?" Die Stimme der Schwester riss sie aus ihren Gedanken. Die Braunhaarige stand ungeduldig mit dem Fuß tippend vor ihr und wartete auf eine Antwort. Schnell fasste Sakura einen Entschluss.

Das Klingeln ihres Handys war es, was Hinata schließlich aus ihrer Verzweiflung rettete. Hastig rappelte sie sich auf, zog die Nase hoch und wischte sich über die tränenfeuchten Wangen, ehe sie sich das Telefon schnappte und an ihr Ohr hob.

„Hinata Hyuu..." Sie unterbrach sich selbst, als sie ihre raue Stimme hörte, räusperte sich kurz und sprach dann normal klingend weiter. „Hinata Hyuuga."

„Ah, Hyuuga-san, gut, dass ich sie so schnell erreichen konnte. Hier ist das Konoha Hospital. Wie geht es ihnen?", erklang eine freundliche Stimme am anderen Ende der Leitung.

„Danke, es geht. Woher haben sie diese Nummer?" Hinata klang noch immer so, als ob sie Schnupfen hätte.

„Von ihrer Freundin. Sie sind doch mit Haruno Sakura befreundet, nicht?"

Das Herz der Hyuuga stockte, nur um danach umso schneller weiterzuschlagen. Genau die Person, an die sie gerade am allerwenigsten denken wollte.

„J-Ja...", stammelte sie. „I-Ist etwas p-passiert?" Blöde Frage. Sie wusste selbst doch am allerbesten, was geschehen war.

„Nun, passiert nicht gerade..." Die Stimme klang nun fröhlich. „Hyuuga-san, Sakura-san ist vor rund einer Stunde aus dem Koma aufgewacht!"

Bei dem Namen ihrer Freundin lief es Hinata eiskalt den Rücken herunter, ihre Nackenhaare stellten sich auf. Wieder tauchte der Moment des Kusses in ihrem Geist auf, wieder und wieder spürte sie das Gefühl dieser warmen, weichen Lippen auf ihren. Ihre Atmung beschleunigte sich.

„Hyuuga-san! Hyuuga-san, ist alles in Ordnung?"

Hinata zuckte zusammen, als sie den besorgten Ton vernahm.

„J-Ja... A-Alles in Ordnung...", brachte sie heraus. „I-Ich war nur s-so..."

„Verständlich", meinte die Anruferin einfühlsam. „Aber um zum eigentlichen Grund meines Anrufes zurückzukommen. Sakura-san bräuchte für rund eine Woche jemanden, der ein Auge auf sie hat, da wir mögliche Rückschläge nicht ausschließen können. Meinen sie, sie könnte sie solange bei sich aufnehmen? Sakura-san hat sie als gute Freundin bezeichnet."

Das bin ich also, schoss es Hinata durch den Kopf. Eine gute Freundin.

Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen bei dem Gedanken, dass Sakura nicht mehr in ihr sah. Und sie dachte immer, sie wären beste Freundinnen. Tränen brannten in ihren Augen, sie traute sich nicht, laut zu sprechen, aus Angst, ihre Stimme würde versagen.

„I-Ich glaube nicht...", hauchte sie ins Mikrofon ihres Handys.

„Was? Warum denn nicht?", kam es verblüfft vom anderen Ende der Leitung.

„I-Ich... Da.... Ich mache nächste Woche einen Schüleraustausch, ein Projekt von meinem Englischkurs, und bin nicht da!" Mit diesen hastig hervorgepressten Worten legte sie einfach so auf, ohne eine Antwort abzuwarten. Für einen Moment betrachtete sie das schwarze Gerät, das in ihrer Hand lag, ehe sie es mit Wucht gegen die nächstbeste Wand schleuderte und weinend zurück auf ihre Matratze sank.

„Sakura-san?" Ruckartig hob sie den Kopf, eine Mischung aus Nervosität und Hoffnung im Gesicht, ihre Locken hüpften fröhlich ob der plötzlichen Bewegung. Die grünen Augen suchten den Blick der Krankenschwester, die mit ihrem treuen Begleiter, dem Klemmbrett, unter dem Arm vor ihr stand. „Ihre Freundin meinte, sie wäre nächste Woche nicht hier, da sie an einem Schüleraustausch teilnehmen würde. Wir können sie aber wirklich nicht ohne Aufsicht lassen. Sollen wir ihre Eltern anrufen?" Sakuras Herz zog sich bei diesen Worten schmerzhaft zusammen. Sie würde Hinata eine Woche lang nicht sehen. Dabei wollte - nein, musste - sie doch unbedingt mit ihr reden. Dennoch nickte sie, langsam und bedächtig.

„Ja, machen sie das bitte", wisperte sie, bevor sie den Kopf auf die Hände stützte und müde die Augen schloss.

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