Teil 48

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Während meine Finger ohne Erfolg versuchten, die Griffe zu lockern, war ich umso verwirrter, da mich zwei verschiedene Hände packten. Die eine gehörte Xenia, die den Ausdruck eines ausgehungerten Wolfes draufhatte, und Ben war ein Aasgeier, ich ihr Opfer. Sie übten so viel Druck auf meine Kehle aus, dass ich mich insgeheim schon von meinem Leben verabschiedete. In diesem Moment bereute ich es unheimlich, Luke weggeschickt zu haben.
"Lasst sie los, ihr Spinner!", schrie Luna und bevor meine Lider sich gänzlich schlossen, sah ich noch, wie sich das Mondmädchen und Marie auf die beiden anderen Nightmares schmissen, jedoch war das nur ein lächerlicher Versuch, denn Xenia entzündete mit ihrer freien Hand eine kleine Flamme, einfach so aus dem Nichts, und hielt meine Verbündeten so von mir ab.
Du bist kein Monster, Melrose.
Du musst nur mit dir selbst klarkommen, also zähle auch nur auf dich selbst.
Bevor ich noch endgültig das Bewusstsein verlor, nutzte ich ihre blanke Haut direkt an meinem Hals, um Kontakt zu ihren Gehirnen aufzubauen, denn so war es um Einiges leichter für mich, Schaden anzurichten. Selbst in meinem geschwächten Zustand fand ich schnell grausame Erinnerungen an Tode von Familienmitgliedern und hoffte inständig, dass die Bilder, die ich mit meiner Fantasie noch verschlimmerte, ausreichten, um sie zum Loslassen zu zwingen.
Ihre Griffe lockerten sich und ich konnte kurz nach Luft schnappen, was sofort in meiner Lunge brannte und sich gleichzeitig wie ein Segen anfühlte. Erschrocken sahen sie mich an und diesen Moment der Unachtsamkeit nutze ich aus, indem ich den beiden mit meiner letzten Kraft befahl, von mir abzulassen und das taten sie auch, sanken auf die Knie und ich mit ihnen. Ich atmete viel zu hastig und mein Herz klopfte viel zu wild, doch Marie eilte zu mir und durch ihre Berührung beruhigte ich mich ein wenig. Ob ich keine Wut empfand, oder ob es an dem Eismädchen lag, dass ich seelenruhig blieb, war mir nicht hundertprozentig klar, doch ich ging eher von Letzterem aus.
"Was sollte das?", fuhr Luna die Knienden vor mir an und übernahm so meinen Part.
"Was ist sie?", warf Xenia ihr entgegen und rappelte sich sofort wieder auf, bereit zum nächsten Angriff.
"Was soll sie schon sein?", gab das Mondmädchen zurück und auch Ben türmte sich bedrohlich vor ihr auf, doch entweder machte es ihr nichts aus, oder sie war verdammt gut darin, es zu verstecken.
"Sie hat mir meine Großmutter blutüberströmt gezeigt! Das ist keine Angst, das ist wirklich passiert, nur anders!", das Dolchmädchen versuchte nicht zu schreien, doch so sehr sie sich auch bemühen mochte, es gelang ihr nicht.
Luna klatschte langsam in ihre Hände: "Wow, wenn du mir jetzt noch sagen könntest, welche Familie die Fähigkeiten besitzt, so etwas zu tun, wären wir schon ein ganzes Stück weiter." Xenia bebte innerlich und Ben legte ihr einen Arm auf die Schulter, um sie davon abzuhalten, etwas Dummes zu tun. Ich dankte ihm im Stillen dafür, denn ich fühlte mich trotz Maries Unterstützung nicht gerade imstande, es mit einer zornigen Feuerbändigerin aufzunehmen, auch wenn es für mich normalerweise kein Problem darstellen sollte.
Er ist auch derjenige, der an ihrer Stelle antwortete: "Sie ist eine Morgen, daran besteht kein Zweifel mehr."
Jetzt klatschte Luna euphorischer: "Die Kandidaten haben 100 Punkte erreicht, herzlichen Glückwunsch!"
Das Dolchmädchen trat einen bedrohlichen Schritt vor, wurde aber von Ben abgehalten. Wäre ich in der körperlichen Verfassung, wäre ich aufgesprungen und hätte dem Mondmädchen links und rechts eine verpasst.
"Alisias Tochter ist tot!", knurrte Xenia schon fast und sah mich dabei an. Ich hätte schwören können, winzige Flammen in ihren Augen auflodern zu sehen.
Mit einer Hand fuhr ich mir sanft über den Hals, mit der anderen stieß ich Maries Berührungen weg. Ich brauchte meine Gefühle jetzt, denn durch sie hatte ich einen Antrieb. So schwach einen Trauer auch machen konnte, so stark konnte einen auch der Wille und die Wut antreiben.
Sobald der wohlige Schleier, der mich umgeben hatte, von mir abfiel, stand ich langsam und mit wackligen Beinen auf. Meine Hände zuckten und ich ballte sie zu Fäusten.
Melrose Morgen war nicht schwach, sagte ich zu mir selbst und erhob dann meine Stimme, sodass mich jeder hörte: "Ich bin der lebendige Beweis, dass dem nicht so ist."
"Wo ist sie?", erkundigte sich Xenia jetzt und ich hätte mit jeder Antwort, mit jedem Wortgefecht gerechnet, doch nicht mit einer Frage.
"Was?"
"Deine Mutter", erwiderte Ben und mein Kopf drehte sich zu seiner Richtung.
Schweigen.
Unsichere Blicke.
Ich schob mit der Spitze meines Schuhs ein wenig Schnee vor mir her und seufzte dann: "Das wüsste ich auch zu gerne."
"Wie bitte?", fuhr Xenia mich an.
Luna ergriff das Wort, noch bevor ich irgendetwas sagen konnte: "Wir wissen es noch nicht."
"Warum haben wir nichts von dir in den Berichten oder Medien gehört? Die Königin hat rein gar nichts-", Ben kam nicht dazu, seinen Satz zu vollenden.
"Meine Tante ist ein Biest", mein Mundwerk war schneller als mein Hirn, doch das war mir in diesem Moment egal, "sie will mich tot sehen, weil sie Angst hat, ich besteige ihren Thron, der niemals ihr gehörte."
"Deine Tante", Ben betonte die Worte sehr deutlich, "leitet ein Königreich und macht sich generell nicht viel aus diesen Fernsehberichten."
"Stimmt", warf Luna ein und verschränkte die Arme, "sie tritt nur auf, wenn sie ihre Macht präsentieren kann."
Der Falljunge schnaubte, doch Xenia sprach: "Wir müssen dich den Leuten zeigen, wenn Alisia dich sieht, kommt sie bestimmt zurück!"
Kam es mir nur so vor, oder war dieses Mädchen darauf vernarrt, meine Mutter wiederzusehen?
Das Mondmädchen nickte: "Eine hervorragende Idee, nur hätten wir da das Problem, dass Melrose von der Königin gejagt wird, die gleichzeitig ihren Tod will und deswegen heute schon Maven Brand und Darius Schwarz bei euch Zuhause waren. Klingelt's?"
Erwartungsvoll schaute ich die beiden an und tatsächlich, ihren Blicken nach zu urteilen, waren ihnen diese Namen nur allzu bekannt.
"Das ist völliger Blödsinn", meinte Ben und auch Xenia stimmte mit einem Kopfnicken ein.
"Lasst uns einen Deal machen", Luna legte den Kopf schief und als keiner etwas sagte, um sie nicht zu unterbrechen, fuhr sie fort, "ihr flitzt jetzt schnell nach Hause und checkt meine Aussage. Wenn ich falschliege, könnt ihr uns gerne melden, oder ihr lebt einfach glücklich euer Leben weiter, doch liege ich richtig, kommt ihr zurück und erklärt euch somit dafür bereit, gegen die herrschende Königin und für Alisias Tochter zu kämpfen. Was sagt ihr?"
Obwohl eine ständige Hitzewelle von dem Dolchmädchen ausging, fühlte es sich an, als würde das Blut in meinen Adern gefrieren. Das war zu dünnes Eis. Wenn sie uns verrieten, wäre alles umsonst gewesen, wir würden auffliegen. Was redete ich da? Das Eis war nicht dünn, es war nicht mal gefroren, sondern immer noch Wasser und Luna versuchte gerade mitten auf einem See festen Fuß zu fassen. Das konnte nur zum Scheitern verurteilt sein.
Wieder tauschten die beiden nur einen Blick und ohne ein weiteres Wort schlug Xenia ein: "Abgemacht, aber wir kämpfen für keine Seite, wir kämpfen um Alisia."

Sie waren schneller in der Dunkelheit verschwunden als ich für möglich gehalten hätte, und das Mondmädchen streckte sich vergnügt.
"Was zur Hölle sollte das?", schrie ich und sie genoss meinen Wutausbruch wohlgemäß, indem sie ihn mit einem Lächeln quittierte.
"Improvisation, Mel, daran fehlt es dir ja offensichtlich."
"Du-", ich hob drohend den Zeigefinger, doch sie schüttelte den Kopf.
"Spar dir deine Drohungen, dank mir später. Sie werden zurückkommen, da bin ich mir sicher."

Nightmare-Ist Zorn gefährlicher als Macht?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt