Kapitel 6

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Alles was ich mir aufgebaut habe, wurde zerstört seit ich in die wunderschönen, alles verschlingenden stahlblauen Augen gesehen habe. Ich darf ihn nicht mehr sehen und ich kann es nicht meinen Eltern erzählen. Niemals! Ich rappele mich auf, wasche mich und trete aus der Nische heraus. Alle Augenpaare sind auf mich gerichtet als ich mich wieder ins Bett werfe und die Decke über mich ziehe. ,,Wir sollten gehen.", sagt Finja kurz aber bestimmend und zieht mein Vater mit sich aus dem kleinen, weißen Zimmer. Meine Mutter erhebt sich ebenfalls und geht nachdem sie mich noch fragte wann ich gehen darf. Janis ist der letzte im Zimmer und tritt nun an mein Bett heran. ,,Ich mach ein Termin mit ihr aus, vielleicht haben wir Glück und du kannst gleich morgen, nachdem ich dich abgeholt habe, zu ihr.", damit meinte er meine Therapeutin, welche ich nun wirklich schon lange nicht mehr besucht hatte.

1296 Karos. 648 Schwarze. 648 Weiße. Abwechselnd aufgereiht auf meiner Decke. Links unten das Logo des Krankenhauses in dem ich liege. Ich finde kein Schlaf und habe damit begonnen alles zu zählen, was sich zählen lässt. Das mag verrückt klingen aber bin ich das nicht längst schon? Gerade will ich damit beginnen das Vierecks-Muster auf meinen Kissen zu zählen, als es an meiner Tür klopf und eine junge Schwester ihren Kopf zwischen Tür und Angel steckt. ,,Können Sie nicht schlafen?", fragt die Schwester, welche in meinen Alter zu sein scheint und ein kurzen, blonden Bob trägt. ,,Nein, aber ich gehe heute sowieso. Ich schlafe zuhause.", gebe ich zu und richte mich im Bett auf. ,,Okay, versuchen Sie trotzdem noch ein wenig Schlaf zu finden.", und Schwupps ist der blonde Schopf wieder aus der Tür verschwunden und ich verfalle in einen unruhigen, leichten Schlaf.

,,Setzten Sie sich, Fr. Riva. Ihr Bruder erwähnte es wäre ein Notfall, deswegen habe ich sie nach etwas drängen noch in mein Terminplan für heute bekommen." Ich setzte mich auf die alte Samtcouch, welche alle meine Probleme in sich aufsog und verschloss. Die dunklen Haare meiner 10 Jahre älteren Therapeutin sind wie früher in einen strengen Zopf gebunden und auch sonst ist die alte, spießige Einrichtung geblieben, sobald man die Tür zu diesen Raum betritt, fühlt man wie sich die Zeit langsamer dreht und man fast vergisst weswegen man dort ist, als wäre alles was passiert ist erst in ferner Zukunft. Doch meine Geschehnisse sind keine Vorhersagen, sie hängen an jeder Wand in diesen Raum, erdrückend legen sie sich um mich, lassen mich um Luft ringen, schnürren mein Hals Stück für Stück mehr zu, bedrohlich wachsen sie zu einen riesigen Käfig an unmöglich zu entkommen. Zaghaft holt mich meine Therapeutin zurück aus meiner Trance in dem sie mir immer wieder ein und die selben Wörter zu flüstert; Das ist nicht die Realität! Sie weiß wie ich mich fühle, wenn ich diesen Raum betrete und sie weiß wie sie es schafft mich von diesen Lügenbildnis heraus zu holen. Ja ich mag sie, sie ist wirklich gut und weiß wo ihre Grenzen liegen, bis jetzt hat sie noch keinen ihrer Patienten an den Himmel abgeben müssen. ,,Ich. Ich w-weiß nicht w-wo ich anfangen soll.", flüstere ich und sacke wie ein Häufchen Elend zusammen, leises schluchzen erfüllt den Raum als Mia, der Name meiner Therapeutin, beginnt mir zu erzählen was bei ihr alles passiert ist seit mein letzten 'Besuch'. Das tut sie immer, soll mich ablenken und zur Ruhe kommen lassen. Ihre Sitzungen sind keine Sitzungen, sondern Treffen, Treffen zwischen Freundinnen die sich ihre Sorgen vom Leib reden und dies tue ich auch dieses Mal. Leise beginne ich zu erzählen was seit dem letzten 'Treffen' passiert ist, ich erzähle nicht alles, denn das kann ich nicht. Zumindest noch nicht. Als ich stoppe, erfüllt schweigen den Raum bis sie sich aufrichtet und zum Telefon geht. Ich beobachte sie ohne ein Ton zu sagen, bis das Gespräch beginnt und ich Stück für Stück in mein tiefes Loch zurück rutsche. ,,Warum?", frage ich hilflos und sehe sie mit leeren Augen an. ,,Es ist besser für dich." ,,Sie hätten mich fragen müssen! Sie dürfen das nicht einfach entscheiden!", schreie ich kraftlos und mache mich mit wackligen Beinen auf den Weg nach draußen. ,,Wenn es akut ist kann ich dich sofort einweisen, so haben wir es damals abgemacht.", sagt Mia ernst ohne ein Schritt näher zu kommen. ,,Sofort.", flüstere ich, ein kalter Schauer läuft mir über mein Rücken, ich breche zusammen und verstehe die Welt nicht mehr. ,,Wann und wohin?" ,,Du hast Glück und es ist morgen ein Bett auf deiner letzten Station frei." Ein leeres Lachen entweicht mir. Glück. Welches Glück? Mir hat die Psychiatrie damals nichts gebracht und auch dieses Mal wird sich nichts ändern. Ich bin keines Wegs in Gefahr und werde mich sobald es mir möglich ist entlassen. Mia wird mich nie wieder sehen auch wenn ich sie mag übertreibt sie maßlos. Ich stehe auf und gehe, gehe dort hin wo mich meine Füße tragen, ohne auf meine Umgebung zu achten, ohne zu denken laufe ich einfach quer durch die Stadt. Irgendwann, ich habe das Zeitgefühl schon längst verloren, bleibe ich stehen und sehe mich um. Ich kenne den Ort nur zu gut, hier hat so vieles angefangen aber auch so vieles hat hier ein Ende gefunden.

WintergeflüsterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt