6. Kapitel

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Dieses Kapitel wurde am 22. April 2018 überarbeitet.

(Erläuterungen dazu findet Ihr am Schluss des 9. Kapitels)

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> H A R R Y <

Das Auto ist gestopft voller Menschen, die diese Mitfahrgelegenheit nutzen in der Hoffnung, bald ihre Angehörigen oder Freunde abholen zu können. Der eine oder andere längere Blick zeigt mir, dass ich erkannt werde. Aber jeder ist so auf sich selber und seine Probleme konzentriert, dass mich zum Glück niemand darauf anspricht. 

Der Fahrer lädt uns bei der ersten Bauernhofsiedlung aus. Er will natürlich so schnell als möglich zurückfahren, um die Verletzten nach London zu bringen. Meine Mitfahrer laufen gleich los, um an der ersten Tür zu klopfen. Währenddessen verschaffe ich mir erst einmal einen Überblick und merkte sofort, dass diese drei Häuser bestimmt nicht genügend Transportmöglichkeiten für uns alle bieten würden.

Es scheint mir erfolgversprechender, mich gleich zu Fuss auf den Weg in den nächsten Ort zu machen. Laut dem letzten Wegweiser müsste ich etwa in zehn Minuten dort sein. Ich beeile mich, denn ich möchte Juna nicht länger als nötig warten lassen. Sie vertraut mir endlich und es ist mir wichtig, sie nicht zu enttäuschen.

Meine Gedanken gehen zurück zur vergangenen Nacht. Eigentlich denke ich schon die ganze Zeit an nichts anderes. Juna fasziniert mich, seit ich ihr gestern zum ersten Mal in ihre grossen grauen Augen geschaut habe. Das ist grundsätzlich nichts wirklich Neues für mich. Ich bin oft von schönen Frauen umgeben und weiss, dass ich schnell mit ihnen in Kontakt komme. Ich versuche ehrlich das nicht auszunutzen, aber manchmal ist es schwierig zu widerstehen. Nach all den Jahren ist das Gefühl des Erfolgs beim weiblichen Geschlecht etwas schal geworden. Ich wünsche mir ab und zu, dass es noch mehr gäbe, als diese fast kritiklose Bewunderung, die mir viele Frauen entgegenbringen.

Mit Juna war es von Anfang an anders. Natürlich hat sie mir sofort gefallen. Trotzdem sie in männlicher Begleitung da war, habe ich den Blickkontakt gesucht, mit der Absicht zu flirten. Zu meiner Verteidigung kann ich sagen, dass sie in seiner Gesellschaft nicht allzu glücklich schien. Aber dann gab es diesen Moment, in dem ich hinter ihre Fassade blicken konnte.

Im Nachhinein erinnere ich mich, dass ich das Gefühl hatte, keine Wahl zu haben. Es war wie ein Sog, der mich tief hineinzog. Ich sah ihre Verletzung und Unsicherheit und ich spürte ihre ungeheuer starke Sehnsucht nach Akzeptanz und Liebe. Es waren nur Sekunden und ich kann nicht rational nachvollziehen, was da passiert ist. Aber nachher war alles anders und den Flirtversuch habe ich total vergessen. Ich war erfüllt vom surrealen Wunsch, diese Frau kennenzulernen, sie zu trösten und zu beschützen.

Vielleicht war das der Grund, warum ich sie später nicht zurücklassen konnte. Ich hätte ja auch mit meinen Freunden mitfahren und später einen Suchtrupp zurückschicken können. Aber im Augenblick der Entscheidung war es für mich klar, dass ich selber nach ihr suchen musste.

Den ganzen Abend über erlebte ich sie äusserlich als starke und tapfere Frau, aber sie konnte mich nicht täuschen. Ich habe gemerkt, wie sie immer wieder um ihre Selbstbeherrschung kämpfen musste. Kurz vor dem Einschlafen und später im Schlaf liess ihr Schutzschild nach und die Angst gewann die Oberhand. Es tat mir weh, ihre hilflosen Tränen zu sehen. Aber das Gefühl, ihr diese Angst zu nehmen zu können, war unglaublich schön für mich. Zu spüren, wie sie sich in meinen Armen beruhigte und schliesslich wieder einschlafen konnte, berührte mein Herz tief.

Ich frage mich, was wohl dazu geführt hat, sie so zu verunsichern. Der Ursprung liegt bestimmt nicht nur in den Ereignissen des gestrigen Abends und am Benehmen ihres Begleiters. Hier kann ich nur spekulieren und das bringt mich nicht weiter. Aber es weckt das Verlangen in mir, sie besser kennenzulernen. Ich habe ihr versprochen, bei ihr zu bleiben, solange sie mich braucht. Dieses Versprechen werde ich einhalten und wenn ich ehrlich bin, sind die Gründe dafür nicht ganz uneigennützig.

Healing Touch (H.S.)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt