Tief atmete ich die frische Luft ein. Wie ich das vermisst hatte. Im Krankenhaus roch es immer so Übelkeit erregend nach allem möglichen, das besser undefiniert blieb. Langsam setzte ich mich mit meinen Krücken in Bewegung und stakste leicht ungelenk auf das Auto meiner Mutter zu. Wer schon mal mit Krücken laufen musste, weiß wie anstrengend sowas ist und wie unpraktisch diese Teile sind. Aber gut, ohne ging es auch nicht, obwohl sie bei mir fast nur noch obligatorisch waren. Es fehlte nicht viel und ich könnte auch ohne Stützen laufen. Heute ist Montag und ich durfte nach diesen endlosen drei Tagen endlich Heim, in die Schule musste ich heute noch nicht, Yvonne aber leider schon. Sie wurde daher schon gestern Abend von ihrer Mutter zurück gefahren. Das ließ uns beide nicht besonders wohl zurück. Ich hatte die letzten Nächte zwar keine weiteren äh... sagen wir mal „Erfahrungen" gehabt, aber besonders beruhigt war ich dadurch auch nicht. Deshalb wollte Yve auch zuerst gar nicht Heim und wollte lieber morgens um fünf Uhr früh aufstehen, um rechtzeitig zur Schule zu kommen. Da hatte ich versucht logisch zu argumentieren und gemeint, dass sie doch auch nicht die nächsten paar Jahre neben mir schlafen konnte. Nur leider wollte ich mich damit selbst auch überzeugen, da war es kein Wunder, dass Yve mich nur skeptisch angeschaut und mir befohlen hatte, sie anzurufen, wenn etwas sein sollte. "Und wenn es 4:00 Uhr morgens ist, du rufst mich an. Keine Widerrede, du machst es einfach." Ich musste schmunzeln, als ich an ihre Worte zurückdachte und wer konnte ihr da schon widersprechen? Was war ich froh, dass ich sie hatte. Jetzt mal ehrlich, ohne sie wäre mein Leben doch total langweilig und deprimierend.
Außerdem hatten wir noch ausgemacht, dass sie nach der Schule zu mir kam, um einen „Schlachtplan" zu entwerfen. Denn nach dem was alles passiert war, brauchte ich dringend Antworten. Und ich hatte so eine Ahnung, dass Torak und seine Schwester mehr wussten, als sie zugaben. Doch bis dahin musste ich erst mal möglichst Schmerzfrei nach Hause kommen.
---------
Oh Mann, nächstes Mal, sollte ich noch einmal eine „Erfahrung" haben und diese auch noch überleben, würde ich mir nach der Entlassung aus dem Krankenhaus einen Transporter bestellen. Mit einem großen, weichen Bett ausgestattet und möglichst viel Platz. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie schmerzhaft es ist, sich mit einem Haufen streng mit Verbänden umwickelter, tiefer Wunden in ein winziges Auto zu quetschen. Und bei jeder, sehr wohl spürbaren, Bodenunebenheit durchgerüttelt zu werden. Daheim angekommen, war ich dann nur noch stöhnend in mein Zimmer und damit aufs Bett geplumpst, auf dem ich seither lag und mich langweilte. Zuhause war es zwar schöner als im Krankenhaus, aber deshalb nicht unbedingt unterhaltsamer. Immerhin müsste Yvonne jetzt dann auch mal bald auftauchen, denn schon vor einer Stunde war ihr letztes Schulfach zu ende.
---------
Als sie dann aber nach über zwei weiteren Stunden immer noch nicht da war, begann ich mir langsam ziemliche Sorgen zu machen. Ich hatte schon mehrmals ihr Handy angerufen, aber da hieß es immer nur der Teilnehmer sei nicht erreichbar. Bei ihr Zuhause ging auch niemand ans Telefon. Außerdem war ich mir sicher, dass sie mich nicht einfach vergessen hatte und wenn doch etwas dazwischen gekommen wäre, hätte sie mich angerufen. Inzwischen hüpfte ich auf meinen Krücken durch mein Zimmer und versuchte mir auch nicht vorzustellen, wie Yve entführt oder von Kriminellen ausgeraubt und niedergestochen wird und jetzt entweder betäubt und gefesselt in einem Kofferraum liegt oder verblutend in einer dunklen Gasse sitzt und keine Möglichkeit hat, Hilfe zu rufen.
Okay da war Möglichkeit eins sogar noch Wahrscheinlicher als die zweite, denn erstens gab es hier weder besonders viele Kriminelle, außer unserem 14- jährigen Drogendealer Jan, noch irgendwelche dunklen Gassen und Yve war außerdem nicht so einfach zu überrumpeln (hier spreche ich aus Erfahrung). Trotzdem lief jedes mögliche Worst- Case- Szenario in meinem Kopf als endlos-Film ab und wurde mit jeder Minute schrecklicher. Als ich es schließlich nicht mehr aushielt packte ich mein Handy ein und machte mich auf meinen Krücken wacklig auf den Weg zu Yvonnes Haus. Doch wie ich schon vermutet hatte, war niemand zu Hause. Also ging aufs höchste angespannt den ganzen Schulweg entlang und blickte mich suchend nach Yvonne um. Wie erwartet kam ich an meiner Schule an, ohne auch nur einen Hinweis auf sie zu finden. Ich umrundete das Gebäude noch, doch auf dem gesamten Schulgelände war keine Spur von ihr.
Frustriert setzte ich mich auf eine Bank und dachte nach. Es half nichts, wenn ich weiter auf meinen Krücken allein die Gegend absuchte. So würde ich sie nie finden. Seufzend gab ich fürs erste auf und hüpfte auf einem Bein um die Bank, um meine Krücken aufzuheben, die ich zuvor dort abgelegt hatte. Doch als ich schon ein paar Schritte in Richtung Zuhause gegangen war, knirschte es vernehmlich unter meinem Fuß. Und als ich mich neugierig nach unten beugte, um das Ding aufzuheben auf das ich getreten war, erstarrte ich. Es herrschte gefühllose Kälte in meinem Kopf, als ich das Gerät, ein Handy betrachtete.
Yvonnes Handy.
Zitternd steckte ich ihr Handy zu meinem in die Tasche und schaute mich genauer um. Doch wenn hier irgendwelche Spuren waren, hatte ich keine Ahnung, wie ich die Richtigen erkennen und auch die daraus resultierenden Schlüsse ziehen konnte. Verdammt, wenn Yve irgendetwas passiert war, wegen mir passiert war, würde ich mir das nie verzeihen. Leicht verzweifelt sank ich auf meine Knie und grub meine Hände in das feuchte Gras. Tief sog ich die Luft in meine Lungen. Mit geschlossenen Augen ließ ich mich von der Stille und der Natur um mich herum beruhigen. Ich konnte nicht erklären warum, aber die Pflanzen hatten diese Wirkung auf mich. Yvonne fand das jedes Mal „total abgefahren", sie hatte das dann auch immer versucht. Interessanterweise klappte das bei ihr auch, aber lange nicht so schnell und effektiv, wie es bei mir der Fall war. Das war auch einer der Gründe, warum wir schon im Kindergarten unzertrennlich waren. Es hatte einfach gepasst. Meine Mutter erzählte immer wieder, dass als ich an meinem ersten Tag im Kindergarten ankam, Schnur stracks auf das kleine, blonde Mädchen zulief und seitdem nicht mehr weg. Und auch Yve sah mich seit diesem Moment vor so vielen Jahren als aller beste Freundin.
Ich dachte daran, wie wir an unserem ersten Schultag überall gemeinsam hin mussten und danach hatten unsere beiden Familien sogar zusammen gefeiert. Ich ließ alle guten Erinnerungen, die wir zusammen über die Jahre erlebt hatten Revue passieren. Lebhaft konnte ich mich an einem wunderschönen Sommertag erinnern, an dem Yve lachend in der Sonne stand und einfach die Wärme genoss. Ich konnte sie vor meinem inneren Auge sehen, wie sie sich angestrahlt von der Sonne ausgelassen gedreht hatte. Das war einer jener Augenblicke, den man tief in sich aufnahm und sich immer daran zurückerinnern würde, als der Moment in dem man einfach glücklich war.
Da stieg ein seltsames Gefühl in mir hoch, als würde ich... wachsen. Nicht so unbedingt körperlich, sondern mehr geistig. Als würde sich mein Geist erweitern und mit meinem Geist auch meine Sinne. Auf einmal konnte ich die Gerüche der Natur unglaublich vielfältig wahrnehmen, unter dem süßlichen der Blumen stach der leicht bittere von Harz heraus und der erdige des Bodens war allgegenwärtig. Das leise Blätterrauschen im sanften Windhauch und sogar das trippeln der kleinen Insekten am Boden drang an meine Ohren. Es war ein unglaubliches Gefühl, eine solche... weite in meinem Kopf, als hätte ich eine Blockade durchbrochen und würde nun erst das ganze Ausmaß meiner Umgebung begreifen. All die Eindrücke im Detail wahrzunehmen und dennoch nicht davon überwältigt zu werden.
Mich erfasste eine unglaubliche Ruhe. Konzentriert dachte ich an Yvonne, ließ sie wieder vor meinem inneren Auge erscheinen und als ich meine Augen aufschlug, sah ich sie schemenhaft vor mir stehen. Sie war nicht wirklich da, zumindest nicht in diesem Moment, aber vor ein paar Stunden war sie genau an dieser Stelle gewesen. Ihr geisterhafter Abdruck verbarg sich geduckt hinter einem Busch und beobachtete etwas, das ich natürlich nicht sehen konnte. Da setzte sie sich auf einmal immer noch geduckt, parallel zum Schulgebäude in Bewegung. In entgegengesetzte Richtung von ihrem Haus und bei jedem Schritt hinterließ der Geist einen leuchtenden Fußabdruck, deutlich sichtbar. Entschlossen stand ich auf und folgte der funkelnden Spur.
Ich würde meine beste Freundin finden.
____________
Tja noch ein Kapitel. Da bin ich jetzt selbst baff, dass ich tätsächlich mehr geschrieben hab. Eigentlich hatte ich vor etwas ganz anderes zu schreiben, aber dann ist das irgendwie rausgekommen. Hm ja, also wahrscheinlich bis zum nächsten Mal.
Reingestellt: 04.05.18
Wörter: 1394
DU LIEST GERADE
The Door In The Forest
FantasíaStolpernd lief sie durch den Wald. Ihr schönes Gesicht war Tränen überströmt und auf ihrer linken Wange prangte ein roter Handabdruck. Doch das war ihr im Moment völlig egal, sie wollte nur weg. Weg von ihrer Mutter, den beiden Geschwistern, diesem...