O N E

155 13 0
                                    

Es war so ruhig. Es war das einzige Mal, bei dem es so wisprig leise war. Sonst läuteten überall Stimmen und Töne, aus jeder erdenklichen Himmelsrichtungen und niemals gab es eine vollkommene Ruhe. Das war das einzige, was ich all die Zeit lang gewollt habe. Ich wollte nie aufwachen, wollte immer ein kleines bisschen länger liegen bleiben, dies ohne jegliche Störung. Nie hatte es auch nur ein einziges Mal geklappt - jederzeit kamen wirre Laute, Gespräche, die mich nicht interessierten. Gingen sie über mich? Das konnte sehr gut sein. Denn oftmals waren sie in einer so unmittelbaren Nähe, dass man hätte denken können, die Übeltäter würden direkt neben mir liegen. Und das war nebenbei eine schreckliche Vorstellung.

All die Zeit war mir nie klar gewesen, wer diese fremden Personen wohl sein könnten. Ich konnte mich auch nicht an die Namen erinnern, oder an die Gesichter der Wesen, die ich anscheinend einst kennen musste - mein Kopf war ein Adressbuch, aus dem die wertvollen Seiten ausgerissen wurden. Ich versuchte mich daran zu erinnern, wie ich aussehen könnte. Wie mein Name wohl lauten dürfte. Ich war mir nicht klar, wo, wer oder was ich war. Doch andererseits könnte es mir nicht mehr egal sein. Alles war mir egal. Wenn ich wüsste, ob ich mich bewegen könnte, dann hätte ich wohl in diesem Moment einen Muskel getan, den ich nur für ein simples Lächeln betätigen würde. Es war irgendwie abstrus. Immerhin musste ja etwas schreckliches, etwas furchtbares geschehen sein - sonst wäre ich wohl kaum in der Situation, in der ich mich in diesen Sekunden befand. In diesen Minuten. Stunden? Tagen? Wochen? Jahren? Und trotzdem könnte ich mir keine bessere Verdeutlichung des Wortes Frieden vorstellen. Exakt so stellte ich mir es vor - dieses großartige Wesen, dieses theologische Wort - denn ich durchlebte ihn gerade. In einem vollkommenem Genuss kostete ich meine Nichtdasein aus - meine Ohnmacht. Andererseits - meine Gedanken waren in letzter Zeit so wirr, so schnell, doch geordnet, dass ich mich wunderte, ob ich wirklich in dem Stadium war, in dem ich dachte zu sein. Meines Erachtens war ich tot. Mausetot. Dem Tod persönlich begegnet. Doch trotzdem fühlte es sich nicht so an. Ich hatte nie ein Licht am Ende des Tunnels, kam keinem großen Herren im weißen Kittel und Heiligenschein auf dem Weg zum Himmel entgegen und erlebte auch keine zugeschütettete Schwärze. Egal, wie man sich dieses Mysterium um den Tod vorstellte - nichts, reingarnichts, kam an dieses Ungetüm heran, in dem ich mich gerade befand. Diese Gedanken, die mittlerweile nicht mehr so friedvoll waren und nun mittlerweile auch schon die Gespräche von außerhalb an Lautstärke übertrumpften, ließen mich dann doch an meiner Theorie zweifeln. Ein Tod, der mich mit Fragen offen ließ und mir keine endlose Erleuchtung und kein grenzenloses Allwissen gab, konnte doch schlecht der Tod sein. Anderenfalls - vielleicht war ich ja auch in der Hölle, und die bestand eben daraus, dass mir keine Antworten jemals offenbart werden würden. Zugegeben, so religiös war ich dann auch wieder nicht. Und nebenbei, als Hölle fungiert das alles wohl auch eher nicht. Grausame Menschen und Wesen, die es wohl verdient hätten, ihre Leb - und Todestage in aller Ewigkeit schmorrend in der Hölle zu verbringen - und wer weiß, vielleicht war ich ja tatsächlich einer von ihnen - die sollten hier landen? An einem fast hundertprozentig stillem Ort? Es gab hier, wo auch immer ich mich befand, keine Schmerzen, die ich irgendwie empfinden könnte. Kein Gekreische aus irgendwelchen Ecken, bei denen man an irgendwelche, ewigen Strafen erinnert werden sollte, keine Flammen, die aus dem Boden ragten und auch kein rot koloriertes, riesiges Metamorphosenwesen mit spitzen Hörnern war zu sehen. Aber vielleicht macht das ja auch alles irgendwie wieder Sinn. Immerhin war ich tot. Und wenn ich mich nicht an meine angeblich schrecklichen Taten erinnern kann - die ich eventuell hinter mich gebracht hätte, als ich noch ziemlich lebendig war - wie sollte ich diese dann büßen? Vielleicht büßt hier niemand irgendetwas. Vielleicht liegt hier jedes, jemals gelebte Wesen einfach auf butterweichem Boden in tiefster Schwärze und denkt nach. Nicht die aufregenste Theorie über den Tod, tatsächlich aber wohl einer der angenehmsten. Ein ewiges Paradies, mit glitzernden, trinkbaren Wasserbächen, zwitschernden Singvögeln, ein ewiges, gutes Wetter und die süßesten Früchte, die man jemals verzähren würde - wenn man mich fragt, dann war das nicht der ideale Ort, wo ich meine Ewigkeit verbringen wolle würde. Ein ewiges Nickerchen gefiel mir da schon eher.

Und wahrscheinlich sind wir im Tod eh alle gleich.

Jeder Straftäter.

Und jeder Freiheitskämpfer.

Jeder Feind und jeder Freund.

Jeder Unbekannte und jedes Familienmitglied.

Es gibt kein Wiedersehen, so wie man es uns versprochen hat - falls man es uns versprochen hat - mit unseren Liebsten. Die würden sich wahrscheinlich auch genauso wenig an mich, wie ich mich an sie erinnern. Wenn meine Mutter jetzt schon tot wäre, würde ich sie erkennen, wenn sie vor mir stände? Würde ich überhaupt jemals wieder eine Person sehen? Würde ich grundgenommen etwas anderes sehen, als ständige Leere, wie sie sich mir zu diesem Zeitpunkt offenbarte? Ich hatte keine Ahnung. Und - um wirklich ehrlich zu sein - war es mir auch egal. Denn, wie ich es schon oft vorher erwähnt hatte, war ich tot. Ich war tot. Und nichts würde das jemals ändern.

________________________________

Ein relativ kurzes Kapitel, aber meine Freunde, glaubt mir, die nächsten werden deutlich länger und deutlich spannender.

Was meint ihr, was wird passieren? Wer ist die Person, die da gerade spricht? Und sie er/sie wirklich tot?

Wir werden es sehen ...

Nia

E A R T H D U C H E S S { a v e n g e r s ]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt