Atomosophobie

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Diese/s Gedicht/Ballade ist für einen Poetry Slam mit der Thematik 'Kraftwerke' entstanden

Der Opa im dritten Stockwerk kennt das Wort
Atomosophobie
Manchmal verwechselt er es mit Autodysomophobie

Wenn du mit deiner Sechsjährigen
Die ihre Schultasche, Autoschlüssel für Mami trägt
Mit ihren klebrigen Nutellafingern auf deine Handtasche schlägt
An dem unbenutzten Feuerlöscher vorbeihastest
Dem, der kirschrot eine lächelnde Mona Lisa ersetzt
Ein Prachtstück - Prachtexemplar
Warum ist er nochmal da?

Ah ja, um Feuer zu löschen
"Du bist so dumm", sagt deine Tochter
"Steht doch im Namen."
Doch sie weiß nicht, was
Mitternachtsarbeit, Sandrieseln hinter Glas und harte Kaugummimonde auf Beton uns nahmen

Sie nahmen uns an erster Stelle Zeit
Es braucht Zeit, um ein Feuer zu entfachen
Ohne Zeit bleibt uns nur der Auslöser
Ohne Zeit wartet nichts
Ohne Zeit bauen wir Glashäuser
In denen wir Offensichtliches einsperren, um zu vergessen
Denn was sagt uns die Uhr, wenn es keine Zeit gibt?
Was sagt sie dann?

Sie nahmen uns an zweiter Stelle das Feuer
Es braucht Feuer, um mit Begeisterung anzustecken
Ohne Feuer bleibt uns nur das Wissen
Ohne Feuer gibt es keine Bewegung
Kein Was könnte ich
Kein Ich liebe dich

Weder fließende Ideen vorm Augenschließen
Noch Überzeugung beim Worteschießen
Im Büro oder mitten im verdammten Menschenmeer aus
Sommerschweiß, Angstschweiß, Aufregungsschweiß
Und dem ganzen anderen Scheiß

Wo Augen dich anblicken
Weil sie Schlupflöcher suchen
Schlupflöcher statt Eingeständnis
Gute Nacht Geschichten statt Einverständnis

Du redest um zu überzeugen
Aber was suchst du unter Falschfindern?
Lösungen will hier keiner
Was du über die Zukunft erwähnt hast weiß höchstens einer

Denn der Zuhörer ist der Experte
Klimawandel ist unaufhaltbar, nicht menschengemacht oder unmittelbar
Stimmt, das sagt auch mein Nachbar!
Meint der Student ohne Umweltseminar

Und deine kleine Sechsjährige nennt dich dumm
Doch du kannst es ihr nicht sagen
All die Graugesichter, die Verleugnung und die Sache mit dem Feuer

Warum hängt der Feuerlöscher im goldenen Mona Lisa Rahmen
Wenn das Feuer längst erloschen ist
Und selbst du nichts zum Verbrennen findest
In dieser grauen Hülle, in der du dich täglich abschindest

Der Opa steht jedes Mal vor der blaulackierten Tür
Schlammaugen
Zitterhände
Federnhaare
Pergamenthaut
Flussadern
Nostalgielächeln
Sekundenblinzeln

Es ist der, der dir und deiner Tochter zunickt
"Grüß Grott" ist sein Mantra
Und der alte Mann kennt das Wort Atomosophobie
Das klebrige Gefühl in den Gliedern
Den Eisengeschmack auf der Zunge

Du weißt es nicht, deshalb sage ich es dir
Hinter der blaulackierten Tür ist ein Zimmerpflanzendschungel
Fair-Trade ist das neue Must-Have
Plastiktüten sind Vergangenheit
Unnötige Atomkraftwerke die Wahrheit
- Balkonkraftwerke die Gegenwart

Der Opa im dritten Stockwerk
Kennt das Wort Atomosophobie
Er weiß, dass Atomosophobie die Angst vor Kernexplosionen, Nuklearbomben und einem Atomkrieg beschreibt
Er ist aber nicht stolz darauf

Nicht stolz wie auf die Tatsache
Dass er weiß, was Strg + Alt + Entf auslöst
Was sein Enkel unter Minecraft versteht
Wie durch Wind Strom entsteht
Warum man ab der Sechsten mit Power Point vorträgt
Wann man eine Fangfrage in der Quizshow besteht

Und dass er herausfinden möchte, wie die Welt funktioniert
Obwohl sein Tod fünf Atemzüge entfernt sein könnte
Vier Schritte, drei Blicke
Zwei Gläser Bier
Eine Tramfahrt nach Moosach
Oder ein halbes Lächeln

Denn er kennt das Wort Atomosophobie
Er denkt daran
Wenn sich seine schrumpfende Statur und die krausen Haare in der leuchtend glatten Oberfläche seiner Solaranlage spiegeln
Und sein Herz mal wieder ein Marathon in schauriger Erwartung läuft
Und hinter ihm, hinter seinem winzigen Balkon, vor dem blauen Gesicht der Panele monströse Atomkraftwerke gen Himmel wachsen
Zum Platzen dick
Und zum Sterben gefährlich

Er denkt daran
Wenn das Ungeheuer auf seinem Brustkorb sitzt und ihm zuzischt
"Du stirbst, alter Mann. Du stirbst."

Er denkt daran
Wenn die freundliche Ärztin ihn über seine Heimat fragt
Während seine Zellen und die des Ungeheuers stückchenweise sterben

Die Erinnerung an Fukushima ist befleckt
Wie das gelbe Briefpapier aus 1971
Das unangetastet in der schmalen Schublade seiner Kommode liegt
Und wartet

Denn der Opa im dritten Stockwerk wird bald 93 Jahre alt
Und trotzdem badet er im Gegensatz zu dir in Zeit
Er hat Zeit, sein pulsierendes Herz in die Hand zu nehmen
Dem Streichholz eine Reibefläche zu geben
Und ein loderndes Feuer zu beleben

Entscheidungsfeuer
Wortefeuer
Handlungsfeuer
Überzeugungsfeuer
Liebesfeuer

Du kennst sie alle
Wie der Opa das Wort Atomosophobie kennt
Und das sechsjährige Kind, das deine Hand umklammert?
Das dir im Minutentakt Beschwerden ins Ohr jammert?
Das die Autoschlüssel wie ein heiliges Kreuz hält
Weil dir alles andere missfällt?

Was weiß sie über Feuer?

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