3. Karasu

313 29 5
                                    

Majikku

Ich rannte in Richtung Klasse, kein Schüler lief mir über den Weg, sie waren schon alle in ihren Klassen. Ich rannte, weil es einen Stau gegeben hatte und ich dadurch zu spät war.
In Gedanken bereitete ich mich schon auf eine peinliche Entschuldigung vor, als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung bemerkte. Rechts neben mir rannte jemand, vermutlich doch noch ein Schüler, der zu spät war, der in einen langen, schwarzen Mantel gehüllt war, die Kapuze verdeckte sein Gesicht. Auch wenn die Erscheinung etwas seltsam war, so war es nicht das, was meine Aufmerksamkeit erregt hatte.
Zumindest nicht nur.
Was meine Aufmerksamkeit erregt hatte, war eine andere Gestalt, ebenfalls in einen dunklen Umhang gehüllt und einer Kapuze auf dem Kopf. Das einzige, was die erste und die zweite Gestalt unterschieden, war, dass auf dem Mantel der zweiten Gestalt, rote, seltsam ineinander verschlungene Linien zu sehen waren, die das Wort Karasu bildeten. Und als ob der Mantel der zweiten Gestalt nicht schon merkwürdig genug wäre, zog die Gestalt aus ihrem Mantel ein langes, schmales, leicht gebogenes Schwert, das silbern schimmerte und von innen heraus zu leuchten schien. Damit rannte sie lautlos auf die andere, in den Mantel gehüllte Gestalt oder mich zu. Genau konnte ich das nicht sagen, denn sie kam so von der anderen Seite, dass wir beide ein Ziel sein konnten.

Ich war so in die Betrachtung der Gestalt versunken, dass mich der Schmerz eiskalt erwischte, bevor eine Frage sich bilden konnte.
Leider war mir das urplötzliche Stechen in Fuß oder Hüfte nichts Neues, doch so, mitten im Lauf und den Blick nicht auf den Boden gerichtet, konnten selbst das Metallgerüst und die ganze Kraft meiner Arme den fehlenden Gleichgewichtssinn nicht ausgleichen.
Noch im Fallen riss ich instinktiv die Arme hoch, um mich abzufangen und die Hände nicht zwischen mir und dem unnachgiebigen Rollator einzuklemmen. Im gleichen Moment schien sich die Luft elektrisch aufzuladen, denn ich hörte ein Knistern und Summen, während sich jedes meiner Härchen aufstellte.
"Schützen! Wir müssen sie schützen!", glaubte ich plötzlich zu hören, stieß mir jedoch in diesem Moment Rippen und Hüfte, während sich der Schmerz im Fuß intensivierte, weil ich etwas seitlich vorwärts fiel und vergaß die Worte.
Laut scheppernd riss mich der Rollator mit sich, ein heftiges Rucken durchfuhr zwar meine Arme, als ich aufkam, sie federten den Sturz jedoch etwas ab.
"Verflixt!", quetschte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und versuchte ungeschickt, mich auf alle Viere zu hieven und das Metallgerüst von mir zu schieben.
Wie üblich ignorierte ich den lästigen Schmerz hartnäckig und hatte mich gerade aus dem Rollator befreit, als vor meiner Nase zwei schwarze Stiefel erschienen.
"Schon gut, ich bin nur hingefallen, ich habe mich nicht verletzt – sie brauchen mir nicht aufzuhe-"
Ich hatte meinen Standardspruch hierfür schon fast heruntergeleiert ohne aufzusehen, rot wie eine Tomate im Gesicht, als mir einfiel, welche zwei Menschen höchstens dort stehen konnten.
Das Schwert!, schoss es mir plötzlich durch den Kopf, doch weiter kam ich nicht.

Ich war an Schmerzen verschiedenster Art aufgrund der Behinderung gewöhnt, doch ein solcher – einer, der mich kurz alles vergessen ließ und nur den Wunsch zurück ließ, es möge aufhören – ließ sich auch bei mir nicht mehr so oft blicken.
Mein linker Arm knickte willenlos weg und ich fiel hart auf die Schulter, während der Rest meines Körpers wie ein steifes Brett auf die Seite folgte.
Ein Brennen wie von Säure überwältigte alle Gedanken und ich blickte, merkwürdig verdreht, verschwommen zu einer auf mich herabsehenden Gestalt auf, die sich über mich beugte.
Verwirrt betrachtete ich das weiße Glühen aus der Kapuze und begriff nicht. Langsam ließ der Schmerz nach.
Merkwürdigerweise war mein erster Gedanke:
Weiß als Augenfarbe?
Dann sah ich das leuchtende Schwert und den schwarz-roten Mantel und endlich kamen alle Erinnerungen zurück.
Da bekam ich es mit der Angst zu tun und wollte mich aufrichten, wollte schreien, doch Arm und Stimme versagten mir den Dienst.
Einen Moment starrten wir uns stumm an, während ich mich nicht zu rühren wagte. Zu meiner Überraschung steckte die Gestalt plötzlich mit einem scharrenden Geräusch die Klinge ein, wirbelte herum und rannte davon.
Erleichtert und verblüfft drehte ich mich auf den Rücken, während ich in den Himmel starrte und den Schmerz mit aller Kraft zurückzwang.
Ich lebte noch, das war doch schon mal etwas.
Dann, nach einer Weile:
Warum lief eigentlich so ein Irrer mit einem Schwert herum und griff völlig fremde an? Momentmal, hatte er mich denn überhaupt angegriffen? Blut war doch gar nicht an seinem Schwert gewesen, oder?
Ich wusste, dass ich aufstehen musste, doch mir taten alle Knochen weh, besonders der Arm und ich war plötzlich sehr erschöpft.
Doch lange konnte ich mich nicht entspannen, denn da erschien schon wieder eine Kapuzengestalt über mir, diesmal jedoch ohne die Aufschrift und Schwert, also die erste der Gestalten. Nach diesem Auftritt der zweiten war ich jedoch skeptisch und wollte mich wieder auf alle Viere rollen, als die Gestalt sich an meine Seite hockte, mein Handgelenk packte und sich meinen Unterarm ansah. Erleichtert registrierte ich, dass dessen Augen eisblau waren, weil sie jedoch nicht leuchteten, verwanden sie schnell wieder im Schatten.
Für einen Augenblick glaubte ich, etwas höchst Merkwürdiges an meinem Arm gesehen zu haben, aber das konnte nicht sein. Oder doch?
Kurzentschlossen entriss ich der Gestalt meinen Arm und nahm überrascht zur Kenntnis, dass die Gestalt das zuließ, starrte jedoch wie paralysiert auf den linken Unterarm.
Auf meinem Unterarm zeichnete sich, vom Ellenbogen bis hin zum Handgelenk ein langer, tiefer Einschnitt, der den Schmerz zu verursachen schien. Er war zu gerade und sauber für eine Wunde vom Sturz, hatte die Kapuzengestalt mich also mit ihrem Schwert gekratzt? Wenn ja, war es ein Versehen oder Absicht? Wobei mich das merkwürdigste Phänomen der Wunde stark an einem Versehen und an meinem Verstand zweifeln ließ. Das Seltsame war, dass aus der Wunde nicht ein Tropfen Blut lief.
Eigentlich hätte das Schwert – wenn es tatsächlich auf mich gerichtet worden war – die Adern treffen müssen, doch sie lagen, unversehrt und wie kleine, blaugrüne Schlangen auf meinem Fleisch, was ziemlich seltsam aussah.
Bevor ich mich wehren konnte, zog die Gestalt mir die Jacke aus und zog meine T-Shirt Ärmel hoch. An meinem linken Oberarm wurde die Gestalt fündig. Auf ihm prangte ein goldenes Emblem eines schussbereiten Bogens.
Ich stutzte.
Wie kam es dahin? Ich hatte es mir nicht aufgeklebt oder gar tätowiert. Ich hatte es sogar noch nie gesehen. Und auch eine Verletzung mit der Sehne – mir fiel gerade das Brennen wieder ein – wäre nie golden.
Ich unterbrach meine Überlegungen, als ich plötzlich, so leise, dass ich nur einzelne Wortfetzen aufschnappen konnte, eine tiefe, männliche Stimme sagen hörte:
"...wie konnte sie überleben...mächtig...das Mal der Schützin...muss es sofort Aadil melden..."
Auf einmal überkam mich die Erschöpfung wie eine riesige, schwarze Welle erneut und überflutete mich, sodass ich nur am Rande mitbekam, wie ich hochgenommen wurde und endgültig in die Bewusstlosigkeit fiel.


Als ich zu mir kam, lag ich vor meiner Haustür, meine Jacke lag unter mir, die Tasche war ebenfalls in der Nähe.
Verwirrt blinzelte ich.
Wie war ich hierhergekommen? Was war passiert?
Plötzlich fiel mir der Schmerz ein, der in meinem linken Unterarm gelodert hatte und ich hob meinen Arm. Die Haut war makellos, ohne den geringsten Schnitt, das goldene Emblem fehlte ebenfalls.
Irritiert runzelte ich die Stirn und wischte den lächerlichen Gedanken an die Begegnung beiseite. Es war garantiert einer meiner wildesten Tagträume überhaupt gewesen, doch auch solche fanden einmal ihr Ende.
Wie kam ich eigentlich liegend vor meine Haustür, ohne dass es jemand im Haus oder der Nachbarschaft mitbekam? Wie lange lag ich schon so? Und warum konnte ich mich nicht erinnern, warum ich hier lag? Hatte ich das Bewusstsein verloren?
Na ja, hin oder her, erstmal sollte ich aufstehen und reingehen, statt wie blöd meinen Arm anzustarren.
Da bemerkte ich, dass mein Rollator nicht hier war.
Noch einmal runzelte ich die Stirn, diesmal jedoch etwas verunsichert.
Wo war das blöde Ding hin? Hier im Wohnort würde sich nicht einmal ein Kind den Rollator zum Spielen ausleihen und wenn doch, sagten sie Erwachsenen von komischen, am Boden liegenden Menschen Bescheid.
Mit einem Anflug von Zorn raffte ich mich auf alle Viere und krabbelte ein kleines Stück von der Tür weg, sah jedoch immer noch nichts von dem Hilfsmittel.
Glücklicherweise kam nun der Nachbar vorbei und fragte erschrocken:
"Kann ich dir irgendwie helfen? Deine Sachen liegen ja völlig verstreut herum."
"Ach, das. Das ist nichts. Hast du vielleicht-
Rasch biss ich mir auf die Zunge. Wie würde das wirken, wenn ich nach meinem Rollator fragte, wo ich doch immer damit herum lief und er aus den Augen des Nachbarn mein Allerheiligstes war?
"Ja?", fragte der Nachbar irritiert, doch ich fragte lediglich rasch, während ich hastig in Richtung Haustür krabbelte:
"Könntest du mir die Tür öffnen?"
Er kam verunsichert näher, sammelte klugerweise meine Sachen auf und suchte nach einem kurzen Blick auf mich in den Taschen nach dem Schlüssel.
"Natürlich. Wo ist überhaupt dein Gehwagen?"
Rollator., verbesserte ich ihn stumm, sprach es aber nicht aus. Gehwagen waren die Hilfsmittel alter Menschen, die sie vor sich herschoben, während ich in meinem drin stand, mit der Öffnung nach vorne.
"In der Innentasche mit Reißverschluss der schwarzen Tasche.", sagte ich.
"Wie?", fragte er irritiert.
"Der Schlüssel.", half ich ihm und hatte es geschafft; er vergaß seine vorherige Frage.
Immer noch zögerlich öffnete der Nachbar die Tür und stellte die Taschen mit dem Schlüssel in ihr hinein.
Ich murmelte ein Schnelles:
"Danke.", und schlug ihm die Tür vor der Nase zu.
Glücklicherweise war niemand zuhause, so blieben mir die Erklärungen, die ich nicht hatte, erspart.
Angestrengt zog ich mich am Geländer der Treppe hoch, tastete mich an der Wand zu den Krücken entlang und schleifte die Taschen hoch in mein Zimmer. Dann lugte ich vorsichtig aus meinem Zimmerfenster, doch der Nachbar war verschwunden. Sicherheitshalber zählte ich noch einmal langsam bis hundert und ging dann mit den Krücken nach draußen, sogar einmal um den gesamten Wohnblock, doch der Rollator blieb verschollen.

Wütend, aber resigniert, weil ich jetzt die nächste Zeit im Rollstuhl zur Schule kommen musste, kehrte ich nach Hause zurück. Während ich mich im Zimmer verschanzte, dachte ich nach. Ich hatte beschlossen, Mutter die Wahrheit zu sagen, was bedeutete, dass ich ohne eine Erinnerung an das Geschehene und ohne Rollator aufgewacht war. Die Polizei einzuschalten hielt ich für übertrieben, da ging es schneller, einen neuen zu ordern. Zwar waren die Umstände des Verschwindens rätselhaft, doch die Polizei würde, besonders bei der Erwähnung des Traums, mich für verrückt halten, wenn ich ihn als tatsächlich passiertes Ereignis darstellen würde.

Mit schiefem Lächeln dachte ich an die Einzelheiten des Traums zurück.
Ich hatte für einen Moment versucht, an spannendere Dinge zu denken, aber dass meine Phantasie gleich einen Menschen mit Schwert und glühenden Augen erfinden musste...
Stirnrunzelnd dachte ich an den merkwürdigen Schriftzug zurück und war selbst überrascht, wie nervös ich war, als ich den Übersetzer mit dem Wort Karasu fütterte.
Als mir die deutsche Übersetzung vom Bildschirm entgegenleuchtete, war mir jedoch nicht mehr nach Lächeln zumute.

---

Tja, ich habe nicht aufhören können...
Hier also Widererwarten eine weitere Überarbeitung!

Nuoli

Die mit vielen NamenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt