21. Ein Hauch von Magie

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Majikku

"Max, bei Fuß!", unterbrach Tanja's Befehl kurz das Gespräch. Der braun-schwarz gefleckte Schweißhund trottete gehorsam zu seiner Herrin zurück und setzte sich schwanzwedelnd vor sie hin. Bevor ich wieder ansetzen konnte, hatte ich eine merkwürdige Erfahrung:Auf der einen Seite empfand ich das Tier als süß, auf der anderen Seite fühlte ich ob dieses Schoßhündchens Verachtung in mir aufsteigen, während ich gleichzeitig zu ergründen versuchte, ob dies ein Spiel- und Jagdkamerad sein konnte oder letztlich ein Feind war.Ich rieb mir die schmerzende Stirn."Haltet euch bitte zurück, ja?"
Hector wirkte lediglich verwirrt, Felicitas jedoch verärgert."Meinst du, ich suche mir das aus? Zugegeben, eine Jagd für den leeren Magen wäre jetzt nicht schlecht, aber ich kann mich selbst nicht bewusstlos schlagen, wie du es scheinbar gerne hättest", knurrte sie.Im Stillen seufzte ich. "Verstehe. Verzeih, ich muss mich auch noch daran gewöhnen."Ein belustigtes Schnurren stieg mir die Kehle hoch - wohl das Beste was ich jemals von Pumaweibchen als Versöhnungsangebot bekommen würde.Tanja sah mich befremdet an."Fühlt ihr Euch wohl, Magierin?"Unwillkürlich zupfte ein Lächeln an meinen Mundwinkeln und ich schüttelte leicht den Kopf."Majikku reicht. Mir geht es den Umständen entsprechend gut - danke der Nachfrage, Tanja", meinte ich freundlich.
"Aber damit kommen wir bereits auf den Grund, warum ich mit dir reden wollte - ich würde gerne deine Meinung kennen."Leider sah Tanja noch verwirrter aus und fragte:"Meine Meinung, Magi- ich meine, Majikku?"Ich hätte mich gerne neben sie gestellt, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein, doch weil ich das nicht konnte, begnügte ich mit einem ermunternden Lächeln von Ayitas Rücken hinab.Ein Bild blitzte vor meinem inneren Auge auf, das ich schon einmal gesehen hatte: Ich, an den Rücken der Stute gelehnt, während ich mich mit dem vornehm gekleideten Louis unterhielt."Ach ja? Wer sagt denn, dass du erst so sein kannst, wenn der Blondschopf anfängt, sich so anzuziehen?"Ich runzelte die Stirn. "Meinst du etwa, dass ich es jetzt versuchen sollte? Was ist, wenn ich dabei zu Boden falle oder mich auf eine andere Art blamierte?" "Und?"Ungeduld färbte die Gedanken der Stute."Du hast es nicht mit einem wichtigen Würdenträger oder einer Menschenmasse zu tun, von denen du das Gesicht bewahren musst. Also schluck deine Würde herunter - sonst kannst du es nie so einstudieren, dass es souverän wirkt."
Kurz stieg Wut in mir hoch, doch dann wurde mir klar, dass sie recht hatte."Meinetwegen - und? Wie stelle ich's an?"Kurz sah ich verschiedene Bilder aufblitzen, doch es dauerte nicht lange, bis Ayita sich entschieden hatte:"Du solltest zumindest versuchen, von mir alleine herabzusteigen. Zwar beindruckt es die Menschen auch, wenn ich für dich auf die Knie gehe, aber du wirkst vermutlich unabhängiger, wenn du auch so von mir herunterkommst."Ich verzog das Gesicht."Und wo halte ich mich an dir fest? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich das Gleichgewicht halten kann, wenn ich mich mehr oder weniger von dir herunterfallen lasse. Du wirst zwar nicht unbedingt ein Shire Horse, aber doch für mich mit meinen knappen hundertsechzig Zentimetern ziemlich groß.""Versuche es mit den Riemen - selbst wenn das Ganze dann rutschen sollte, wirst du schon nicht umfallen. Und wenn sie dir vielleicht beim Sattel richten helfen muss, könnte sich ja ein natürlicheres Gespräch entwickeln."Herrgott noch mal - es war wirklich schwieriger, einen starken Eindruck erwecken, als ich es mir zu Anfang vorgestellt hatte.Also ignorierte ich Tanja, so sehr mir auch die Röte ins Gesicht und in den Nacken hochkroch, band meine Beine los und wickelte den rechten Riemen an seinem untersten Ende um meine linke Hand. Ich beugte mich so weit es ging nach vorne und versuchte das rechte Bein nach hinten über den Pferderücken schieben.Als es noch nicht reichte, drückte ich mich noch flacher auf den Pferderücken und lehnte mich unwillkürlich leicht nach links, um dem Bein mehr Bewegungsfreiheit zu verschaffen.
Da verlor ich das Gleichgewicht, strauchelte, und riss unwillkürlich am Riemen. Zum Glück hatte ich das Bein schon über den entscheidenden Punkt hinausgeschoben und es rutschte schneller als beabsichtigt hinunter, sodass ich mehr auf die Füße fiel, als landete.Zwar ging ich beim Aufprall leicht in die Knie und drehte meinen Körper durch den Schwung mit dem Rücken zu Ayitas Kopf, doch dank eines Ausfallschritts, blieb ich stehen. Auch der Sattel hatte leicht geruckt, war aber im Großen und Ganzen auf ihrem Rücken geblieben. Mit vor Schreck und Anspannung zitternden Knien, legte ich die rechte Hand an ihre Flanke und drehte mich vorsichtig in ihre Richtung."Alles okay? Habe ich dir auch nicht weh getan?""Atmen, Majikku. Es ist alles gut. Sei lieber froh, dass dir nichts passiert ist."
"Was tut ihr da, Magierin? Habt ihr Euch auch nicht verletzt?"Mit immer noch pochendem Herzen und wackligen Knien wandte ich mich um und zwang mich zu einem Lächeln."Ich sagte doch, Majikku reicht völlig aus. Mir geht es gut - ich habe mich bloß nicht wohl dabei gefühlt, von oben auf dich herabzuschauen. Mir ist ein Gespräch auf Augenhöhe lieber, und weil du kein Pferd hast..."Mein Lächeln musste wohl immer noch sehr gezwungen wirken, denn Tanja runzelte die Stirn. Der Schweißhund schnüffelte neugierig an meinem Hosenbein und ich konnte förmlich spüren, wie meine Persönlichkeit erneut dreigeteilt wurde.Und offensichtlich besaß auch dieser Hund einen Spürsinn dafür:Zuerst richtete er neugierig und ein wenig wachsam die Ohren auf, und ich nahm an, dass er Hektor wahrgenommen hatte. Doch dann legte er die Ohren an, duckte sich auf den Boden und kroch winselnd rückwärts.
Beunruhigt, da ich wusste, dass ich damit eventuell Tanjas Abneigung hervorrufen könnte, wollte ich mich auf die Höhe des Hundes niederknien. Ich rief ihm bereits leise mit besänftigenden Worten zu, als diesmal meine Füße auf dem rutschigen Untergrund den Halt verloren - und schon saß ich unsanft auf meinem Hosenboden.Glücklicherweise schien das dem Hund den Argwohn genommen zu haben, denn er kam leicht schwanzwedelnd zurück und ließ sich nur zu gerne von mir streicheln."Ist wirklich alles in Ordnung, Magierin?"Offenbar wollte sie mich einfach nicht bei meinem Namen nennen.Ich ignorierte den leicht bitteren Geschmack in meinem Mund und krauelte Max hinter den Ohren, den Rücken an eines von Ayitas Beinen gelehnt. Zu gerne hätte ich mir Rücken und Steißbein gerieben, widerstand jedoch.
"Du hast wirklich einen intelligenten Gefährten", meinte ich bemüht beherrscht."Er kann meine Begleiter spüren."Tanja sah verwirrt aus."Was hast du bereits über den Test gehört?"Ich sah zu ihr auf und da schien sie zu merken, dass nun sie auf mich herabsah, denn sie hockte sich mir gegenüber auf den Boden. "Genug, um selbst nicht daran teilzunehmen."Ich nickte."Trotzdem bräuchte ich Details – mir müssen unbedingt Gerüchte im Keim ersticken und bei den Tatsachen bleiben."Zwar hatte ich mir Mühe gegeben, freundlich und trotzdem bestimmt zu klingen, doch Tanja sah aus, als müsste sie ihrem Herrscher eine Hiobsbotschaft überbringen.Langsam stieg Unruhe in mir auf, während das Schweigen sich in die Länge zog.Wird mir die Antwort so wenig gefallen?
Tanja sah aus, als würde sie am liebsten im Boden verschwinden. "Es tut mir ja wirklich leid, Magierin. Aber ich weiß wirklich nicht, was ich von diesem Test halten soll." Da begriff ich, dass sie mir wirklich gerne antworten wollte, aber Angst hatte, zu lügen. Und dass sie trotz einer für mich nicht zufriedenstellenden Antwort bei der Wahrheit blieb, nötigte mir Respekt ab.
Trotzdem fürchtete ich, dass man mir meine enttäuschte Miene ansehen konnte, denn die Hundeführerin sah niedergeschlagen aus. Ein unangenehmes Schweigen entstand, denn Tanja sah aus, als wolle sie mir beim Aufstehen helfen, wage es aber nicht, ihre Hilfe anzubieten. Ihr Hund war wieder ganz in seine Arbeit vertieft, und ich überlegte schon, wie ich würdevoll um eine Hilfe zum Aufstehen bitten konnte. Da zeigte die Frau ein zaghaftes Lächeln."Ich kann Euch vielleicht nicht helfen, aber mein Bruder ist schon ganz neugierig auf diese Mutprobe – geradezu versessen. Und er hat auch einige Freunde, die sich dem Test nur zu gerne unterziehen würden."
Mühsam schluckte ich meinen ersten, impulsiven Protest herunter. Ich wollte keine Unterstützer, die zu allem Ja und Amen sagten, sondern die Wahrheit. Aber vielleicht könnte ich Tanja dadurch ja dazu bringen, sich etwas ungezwungener zu geben.Entschieden streckte ich der Hundeführerin meine Hand entgegen. "Das klingt hervorragend - und noch etwas anderes: Könntest du so gut sein, und mir aufhelfen? In dieser neuen Umgebung bin ich immer noch etwas ungeschickt."---"Also, die Nummer mit dem Tannenzapfen war wirklich cool – und dann auch noch diese abgefahrene Ankündigung, jeder könne in einen Tierpelz schlüpfen. Ich meine, wenn das wirklich geht, können wir diesen Aasgeiern endlich mal den Hintern versohlen!"Der junge Mann, der sich benahm, wie es vielleicht ein Zehnjähriger getan hätte, sah mit leuchtenden Augen zu mir auf. So ging das nun schon seit gut einer Stunde, während sich Tanja als ältere Schwester im Hintergrund hielt und pflichtbewusst, und doch merkwürdig steifbeinig mit ihrem treuen Begleiter nach der Blutspur suchte. Ich unterdrückte einen Seufzer. Lächelnd sagte ich: "Ich könnte es dir auch einfach zeigen, weißt du?"Lautlos bat ich um Unterstützung und dieses eine Mal kam Felicitas meiner Bitte nach – zum ersten Mal, seit ich sie so schmählich hintergangen hatte.Doch als ich ihre Erheiterung spürte, begriff ich, dass sie es nicht um meinetwillen tat.
Mein Gesicht schmerzte und einen Moment lang wurde ich blind. Fell spross, der Kiefer wurde länger, Zähne spitzer und die Sinne wurden schärfer. Das Fauchen konnte ich förmlich auf meiner Miene spüren, noch bevor ich es hörte. Angestrengt bezwang ich den feindseligen Ausdruck und setzte ein Lächeln auf. Doch offenbar sah das immer noch furchterregend – nun, oder zumindest gruselig – aus, denn er und sein Gefolge wichen stolpernd einige Schritte zurück. Sogleich kamen sie jedoch staunend näher.
"Krass! Und sowas geht? Was muss ich tun, um auch so abgefahrene Dinge zu können?"Ihm schien das Wort zu gefallen.Der scharfe Geruch der Angst ging in Wellen von ihr aus – einen Moment, bevor Tanja sich direkt vor ihren Bruder stellte. "Begreifst du denn immer noch nicht?!"Er versuchte, sich an ihr vorbeizuschieben."Was soll ich nicht begreifen? Wie stark und cool sie ist?"Doch Tanja ließ ihn nicht vorbei, sondern stellte sich noch dichter vor ihn, bis beinahe mit ihrer Nase an die seine stieß."Sieh sie dir an – schau sie doch einmal richtig an! Das ist doch... unnatürlich!"Die Hundeführerin sah nicht zu mir herüber, sondern fixierte ihren Bruder mit einem glühenden Blick. "Das ist doch nicht mehr menschlich! Wer sagt, dass nicht schon längst dieses Tier ihren Körper kontrolliert?! Reicht es dir denn immer noch nicht, das aus der Nähe zu sehen?! Kannst du nicht sehen, wie monströs das ist?!"Felicitas knurrte aus tiefer Kehle, und ich war zu schockiert, um sie aufzuhalten.
Tanjas Kopf zuckte, aber sie sah immer noch nicht in meine Richtung, weiß vor Wut und Angst. "Wie kannst du so etwas sagen?", fragte ihr Bruder bestürzt. "Wie ich sowas sagen kann!", explodierte sie. "Ich sage das nur dir zuliebe! Ich kann nicht zusehen, wie diese... Frau dich zu einem widerwärtigen Monster macht, wie sie es ist!"Unwillkürlich begann ich zu zittern, während mir Tränen in die Augen stiegen. Meine Kehle war wie zugeschnürt und ich konnte kaum atmen, während ich gegen das Gefühlschaos ankämpfte. In dem Wirrwarr in meinem Kopf – geboren aus Vergangenheit und Gegenwart – konnte ich nicht sagen, ob ich weglaufen oder sie angreifen wollte. Ob ich traurig oder wütend war. Das sollte der Lohn dafür sein, dass ich einer Prophezeiung folgte, für sie alle in den Krieg ziehen und wenn nötig für sie sterben sollte?Ich hatte gedacht, ich würde die Wahrheit hören wollen – doch offenbar war ich noch nicht für sie bereit gewesen."Wie kannst du es wagen? Ist sie es nicht, die alles für uns riskiert – kaum, dass sie dazugehört?!", schnappte ihr Bruder zurück. Seine Freunde sahen mit weit aufgerissenen Augen zu, schwiegen jedoch und machten sich lautlos aus dem Staub."Sie riskiert alles, ja sicher!", schnaubte Tanja verächtlich. "Immer umgeben mit den fähigsten Kriegern und Heilern, mit einem Mundwerk wie ein Teenager, der sie nun einmal ist und mit einer Ausbildung, für die die meisten Hunger leiden! Wer ist denn hier immer an der vordersten Front und wer spart sich das Geld vom Munde ab, damit du kämpfen lernen kannst?! Ich will nicht, dass du in Gefahr gerätst – nur deswegen habe ich dem Kampftraining zugestimmt: Damit du dich verteidigen kannst! Und nun kommt diese Göre daher, und lockt die Spione direkt vor unsere Tür! Nur ihretwegen mussten wir von zuhause fliehen! Nur ihretwegen ist der Anführer auf die hirnrissige Idee gekommen, die Karasu mit nichts weiter als ein paar Blutspritzern zu suchen! Und nur ihretwegen-"
"Ich störe euren Disput ja nur ungern", sagte da eine wohlbekannte Stimme.Nyoko trat aus dem Unterholz und ihr eisiger Blick durchbohrte Tanja."Aber dein Hund scheint bei dem Gebrüll seine Aufgabe vergessen zu haben – und die ist ja im Moment wohl das Wichtigste, oder?"Sie erhob die Stimme nicht, aber ihre Betonung auf dem letzten Wort machte klar, was sie von der anderen Frau hielt – und die sollte das auch ganz genau wissen.Ihre unnachgiebigen Augen fixierten die Hundeführerin, bis das Zornfunkeln aus deren Augen verschwand und sie unterwürfig den Kopf senkte."Da habt Ihr recht – ich werde mich sofort wieder an die Arbeit machen", meinte sie leise und kraulte Max hinter den Ohren, der leise winselnd zu ihr zurückkehrte.
Mit einem Blick streifte Nyoko den Bruder, der bleich im Gesicht vor ihr zurückwich. "Du kehrst am besten zu deinem Posten zurück – dort bist du nützlicher, als in diesen Streitigkeiten mit deiner Schwester. Wir melden uns, wenn du den Test durchführen kannst."Sie lächelte kalt, und man erkannte die Reißzähne der Löwin, ehe sie den Mund verschloss. Die Augen des Bruders leuchteten nun, trotz seiner Angst vor der Beraterin, und er neigte kurz den Kopf, bevor er verschwand. "Und nun zu dir", wandte sie sich an mich und ihr Ton wurde schärfer. "Ja?", fragte ich verwirrt, während ich merkte, dass ihre Zähne wieder menschlich waren. "Wieso sehe ich dich nicht trainieren? Deine Fähigkeiten sind immer noch mehr als unzureichend und haben sich in der Zeit seit unserem Aufbruch nicht nennenswert verbessert. Was ist deine Ausrede?"
Meine Verwirrung schlug in Verärgerung um, und ich verdrehte die Augen."Hm – lass mich mal überlegen. Könnte es an den Tests liegen? Daran, dass ich neben Felicitas auch andere mit Jagden zufriedenstellen muss? Nein, warte, das kann es nicht sein."Ich mimte einen betont nachdenklichen Ausdruck und ließ meinen Blick durch den Wald wandern."Vielleicht war es ja die versuchte Entführung? Oder doch eher das Gefasel über Gesangbücher und die Geschichtsstunde über die Clans? Ah nein – ich weiß es! Es war die Sache mit den Schwindelanfällen und der Volkszunge!"Ich sah Nyoko geradeheraus an. "Tut mir ja wirklich schrecklich leid, Verehrteste, aber irgendwie komme ich in letzter Zeit nicht einmal zum Schlafen – und als Monstrum abgestempelt zu werden, hilft auch sehr bei der Konzentration. Aber wenn Ihr eine Idee habt, mit der ich parallel schlafen und trainieren kann, bin ich natürlich offen."
Nyokos Blick wurde dunkler. "Mach dich nicht über mich lustig.""Vielleicht solltest du dann dafür sorgen, dass man dich ernster nimmt."Ich überging Ayitas Unbehagen und ritt näher auf sie zu. "Und nein, das geht nicht immer auf die mysteriös-allwissende Tour. Und pure Gewalt zur Einschüchterung zieht bei mir auch nicht mehr."Der Dolch hätte wohl meine Kehle berührt, hätten Felicitas Reflexe diesen nicht mit einer Pranke abgefangen. Schön, dass man auf ihre Jäger-Reaktionen zählen konnte. "Ich bin nicht deine Marionette."Lautlos stimmte ich dem Puma zu, doch wir wussten beide, dass sie die Verwandlung nicht rückgängig machen würde."Es geht nicht darum, dich einzuschüchtern", erwiderte Nyoko. Eine Dolchspitze berührte mich so unerwartet im Kreuz, dass die Raubkatze in mir überrascht fauchte. "Sondern darum, deinen Anfänger-Hals zu beschützen. Bild' dir ja nicht ein, dass du mir überlegen bist, bloß, weil du den ersten Angriff mit jemandes Unterstützung abwehren kannst. Die Kampferfahrung musst du dir erarbeiten, wie jeder andere auch."Ohne ein Licht als Vorwarnung verwandelte sich ihre Hand ebenfalls in eine Löwenpranke und sie fügte mir eine kleine Schnittwunde an der empfindlicheren Pfotenunterseite zu.
Dann wandte sie sich jedoch ab. "Aber meinetwegen – wenn du schlafen willst, halte ich dich nicht auf. Selbst diese emotionsgeladene Frau sollte ihre Aufgabe bewältigen können, während du ein Nickerchen einlegst."Ihr Tonfall legte nahe, wie viel sie von mir halten würde, wenn ich jetzt schlafen ging, doch ich war einfach am Ende meiner Kräfte. Außerdem wollte ich so weit weg wie möglich von Tanja – die ich fälschlicherweise noch vor ein paar Minuten für freundlich gehalten hatte.Ohne ein weiteres Wort wendete ich also die Schimmelstute und ritt zurück zum Hauptteil des Trosses aus Menschen – Familien. Familien, von denen mich vermutlich noch etliche verabscheuten. Aadil wird schon eine Schlafmöglichkeit finden – und wenn sie eine Sänfte bauen müssen, dachte ich düster. Ich riskierte immerhin meinen monströsen Arsch für sie, da konnten sie mich ruhig mal tragen. "So bescheiden und demütig", kommentierte Ayita spitz. "Ach, sei doch still!", fauchte ich sie an und suchte den Anführer.

Ich stand an einem Felsvorsprung und blickte auf ein hübsches Gebäude, das ganz aus weißem Gestein gefertigt schien. Es war noch ein gutes Stück entfernt und ein Fluss schlängelte sich an einer Seite des Gemäuers entlang. Die Anhöhe, auf der es stand, ließ dieses noch imposanter wirken, als es das durch das makellose Weiß alleine schon tat.Der Wind strich über mein Gesicht und bog sanft die weite Grasebene, welche zwischen mir und meinem Ziel lag. Es war friedlich.Eine Weile genoss ich noch den Sonnenschein auf meinem Gesicht und lauschte dem Vogelzwitschern in den Bäumen, ehe ich entschlossen einen Schritt vorwärts tat.
Vielleicht war ich gefallen, vielleicht aber auch nicht, doch im nächsten Moment stand ich in dem Grasfeld, das gut zehn Zentimeter über meinem Kopf die grünen Enden nach oben in den Himmel reckte.
Leise lachend legte ich den Kopf in den Nacken und suchte die Spitze des Turms, um mich orientieren zu können. Sobald ich sie fand, ging ich frohen Mutes weiter. Ich genoss das Streichen der Halme und das wunderschöne Grün, während ich mir weiter einen Weg bahnte.
Da merkte ich, dass ich keine Vögel mehr hören konnte. Obwohl immer noch die Sonne auf mich herunterblickte, schien es dunkler zu werden.
Mit wachsendem Unbehagen ging ich weiter. Mich aber tatsächlich unwohl fühlen, tat ich erst, als ich die tierischen und menschlichen Skelette entdeckte, die unregelmäßig und weit verstreut wie Brotkrumen auf einem unsichtbaren Pfad herumlagen.
War das hier ein Friedhof? Wieso lagen hier so viele Knochen? Was war mit all diesen Menschen und Tieren passiert?
Plötzlich ging mir auf, dass die Halme um mich herum nicht länger nur noch grün waren, sondern gefleckt mit roten Sprenkeln. Erst, als ich den metallischen Geruch bemerkte, blieb ich verwirrt stehen und starrte einen Pferdeschädel zu meinen Füßen an. War das Gras schon immer rot gewesen? Ich begriff, als ich die unzähligen Schnittwunden sah. Ich blutete an Armen, Beinen, Füßen, Händen und auch im Gesicht – ich tränkte diesen Ort mit meinem Blut. Entsetzt starrte ich die Verletzungen an. Das hier war eine Falle! Ich musste sofort hier raus!
Hektisch drehte ich mich um mich selbst, doch ich konnte nicht mehr erkennen, von wo aus ich gekommen war.
Mein Blick schoss zur weißen Turmspitze, doch die wirkte nun viel weiter entfernt – ich konnte sie niemals erreichen, bevor ich verblutete. Die verschiedensten Schädel starrten mich an und grinsten, denn sie wussten es. Ich schrie.

Ich fuhr aus dem Schlaf hoch. Schwer atmend starrte ich die improvisierte Zeltplane an, während ich versuchte, meinen jagenden Herzschlag unter Kontrolle zu bringen. Ein Traum, nichts weiter. Nur ein Traum.Nur so unangenehm lebensecht. Draußen kamen Schritte näher und ich konnte die Decke gerade noch ans Kinn ziehen, ehe Nyoko resolut den Stoff zurückklappte."Ah, Dornröschen ist aufgewacht – wie ich hörte, aus nicht sonderlich erholsamen Schlummer."Ihr wunderschönes Gesicht zeigte keine Regung. Hinter ihr versuchte sich eine Frau unauffällig zu verdrücken."Aadil will dich sehen – zieh dich besser an."Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich ab und ließ den Stoff zurück an seinen Platz fallen. Stöhnend rieb ich mir das Gesicht, ehe ich mich daran machte, ihrem Befehl Folge zu leisten.

"Ah, gut, dass du hier bist – dann können wir ja anfangen", empfing mich Aadil. Ich neigte den Kopf – immer noch zu verstört, um meiner Stimme zu trauen.Außerdem, was sollte ich schon sagen? ‚Für Sie doch immer'? ‚Kein Problem, ich habe nur bis eben geschlafen'? ‚Und wofür musste ich jetzt antanzen?' vielleicht? Also schwieg ich."Ihr solltet euch ja alle kennen", begann der Anführer. "Ich habe die Hoffnung, dass wir vielleicht in dieser Konstellation mit den magischen Übungen beginnen könnten."Es war offensichtlich, dass er noch etwas hinzufügen wollte, doch da fiel ihm Quentin ins Wort.
"Genau, ich verfüge über eine gewisse magische Qualifikation – die natürlich höchst unzureichend an die Eure heranreicht, Ehrenwerteste", fügte er mit einer leichten Verbeugung an."Wie ich gerade sagen wollte", hob Aadil erneut an, "hat Quentin bereits seit einer langen Weile seine Expertise in diesem Gebiet unter Beweis stellen wollen. Nun hat er die Gelegenheit dazu. Ich hoffe doch, dass er dir ein lehrreicher Mentor sein kann."Der imposante Mann hatte seine Stimme nicht erhoben, doch das musste er auch nicht, damit Quentin begriff. "Ich hoffe auf gute Zusammenarbeit", erwiderte ich höflich und versuchte, den plötzlichen Schweißausbruch meines Gegenübers zu ignorieren. "G-g-gleichfalls", stotterte er und ging einige Schritte zurück, als wolle er hinter den anderen unsichtbar werden. "Izanami besitzt genug Heilkünste, um etwaige Unfälle zu überwachen", die weißhaarige Frau nickte würdevoll, "und Markus wird sein Augenmerk auf etwaige Verbindungen zu den Schwindelanfällen und eurer Volkszunge legen.""Das ist richtig – ich bin nur ein stummer Beobachter. Kümmert Euch also gar nicht um meine Anwesenheit."Er ist einer der wenigen, die mich direkt ansehen.Der Gedanke verschwand so schnell, wie er gekommen war. "Vielleicht klingt die Frage ja merkwürdig, aber wieso jetzt? Sind wir nicht auf sowas wie einem Feldzug?", wandte ich mich stirnrunzelnd an Aadil."Das mag schon sein – allerdings ist deine Magie unsere Trumpfkarte. Und eine Trumpfkarte, die man nicht ausspielen kann, ist ziemlich nutzlos, nicht wahr?"
Ich sah ihn schief an.Hatte er schon vergessen, wie sehr ich es als herabwürdigend empfand, so objektiviert zu werden? War die Diskussion über den ‚Schlüssel' wirklich schon so lange her?Schon öffnete ich den Mund, schloss ihn jedoch wieder. Selbst, wenn ich genervt und wütend war – wir alle brauchten ihn als Anführer. Das war es nicht wert, seine Autorität vor allen anderen zu untergraben. Ob er trotzdem verstand, was ich hatte sagen wollen oder nicht – sein Gesicht verriet es jedenfalls nicht."Gut, dann machen wir uns mal an die Arbeit – sorgen wir dafür, dass unsere Magierin gefürchtet wird."Ich lächelte leicht.
"Das klingt doch nach einem Plan – nur noch eine Frage: Ich dachte, es gibt keine Bücher dazu in eurem Besitz?""Tatsächlich-"Verwundert starrte ich das ungewohnte Duo an, welches zeitgleich hatte Einspruch erheben wollen. "Nein, fangt ruhig an, ... Ehrwürdige Heilerin", wollte sich Quentin zurückziehen.Sein Zögern ließ das Wort altehrwürdig überdeutlich in der Luft schweben."Aber nicht doch junger Mann. Sprecht ruhig."Ihr Gesicht blieb so ausdruckslos, dass ich mich fragte, ob ich mir Izanamis Spitze gegen ihn nur einbildete."Also gut", erwiderte er in einem widerwilligen Tonfall, doch die stolzgeschwellte Brust verriet ihn. Mit einem raschen Seitenblick wurde es offensichtlich, dass er nicht glaubte, dass die Heilerin etwas beitragen konnte. "Auch wenn ich leider selbst nicht das Glück habe, ein Magier zu sein, so bin ich doch unter Magiern aufgewachsen. Nun, zumindest hat ein guter Freund meines Großonkels..."
Es folgte eine lange und verworrene Geschichte über Verwandte von Verwandten, deren Namen und Titel ich nach dem ersten Dutzend nicht mehr zu behalten versuchte. Trotzdem schimmerte unzweifelhaft durch, dass die vermeintlichen Familienmitglieder ihn nicht unterwiesen hatten – tatsächlich hatten sie ihn kaum noch beachtet, als klar war, dass er keine Magie beherrschte. Seine gesamte Qualifikation schien auf dem Lauschen an Türen und Spähen um die Ecken zu basieren. Ich hätte wohl Mitleid mit ihm gehabt, hätte er nicht so völlig gleichgültig von dem Tod dieser Verwandten durch die Karasu erzählt. Gerne hätte ich ja geglaubt, dass er lediglich seine Gefühle wegschloss, aber ein Teil von mir hatte die Befürchtung, dass Quentin eine gewisse Befriedigung empfand. Alleine bei diesem Gedanken spürte ich einen Schauer meine Wirbelsäule hinablaufen, doch ich schob diese unbegründete Anwandlung beiseite."...und deswegen bin ich zuversichtlich, Euch mit meinem durch Zusehen und Zuhören angeeignetem Wissen und den mündlichen Überlieferungen meiner Familie unterstützen zu können, Ehrenwerteste", schloss Quentin mit einem zufriedenen Lächeln und einer kleinen Verbeugung.
Wenn Ihr es wenigstens in Theoriestunden und nicht in Spionage-Schnipseln erworben hättet, wäre ich auch zuversichtlicher, dachte ich.Trotzdem lächelte ich ihn freundlich an. "Der Unterricht bei Euch wird sicherlich lehrreich sein."Schnipsel sind schließlich immer noch besser als gar nichts.Ich wartete noch einen Moment ab, ob der beleibte Mann etwas erwidern würde, doch der neigte nur den Kopf.Also wandte ich mich an Izanami. "Ich hoffe doch sehr, dass Ihr nichts werdet beisteuern müssen – da mir die Magie noch vollkommen neu ist, werde ich besonders vorsichtig bei den Experimenten sein."Ich lächelte die weißhaarige Frau beschwichtigend an, doch die ließ sich nicht davon beeindrucken."Als hätte das Euch von Experimenten mit Tiergestalten abgehalten", meinte sie beinahe schnippisch. Felicitas versuchte, zustimmend zu knurren, doch ich war darauf vorbereitet und hielt sie zurück. "Ich weiß – ich habe einen Fehler gemacht. Und es tut mir leid, okay? Aber das braucht ja nicht die gesamte Versammlung zu wissen."Die Stimmung der Raubkatze verdüsterte sich noch mehr, doch sie erwiderte nichts weiter. "Der Grund, wieso ich jedoch etwas einwerfen wollte, sollte Euch jedoch bekannt sein", fuhr die Heilerin fort. "Und ich denke, wir haben beide ein Interesse daran, einen Verdacht zu überprüfen."Obwohl ihre Stimme nicht tadelnd klang, sagte der Blick, den sie mir zuwarf, mehr als genug. Vergeblich versuchte ich, ein Erröten zu unterdrücken."Da habt Ihr sicher recht – ich hoffe auf Eure Unterstützung", murmelte ich, bemüht, sie nicht anzusehen.
Aadil wirkte ähnlich verwirrt und neugierig wie die Anderen, fragte jedoch nicht weiter nach."Also schön – dann fangen wir am besten sofort an. Folgt mir." Ich hatte damit gerechnet, das Aadil uns an einen diskreteren Ort führen würde, auch wenn das während des Marsches sicherlich nicht leicht wäre. Deswegen verwirrte und ärgerte es mich, dass wir lediglich dem Menschenstrom zu folgen schienen. Aadil plauderte hier und dort mit den Mitgliedern, und auch ich wurde mit Fragen und Floskeln überschwemmt, von denen ich nicht einmal die Hälfte beantworten konnte. Auch Izanami, Quentin und Markus wurden neugierig beäugt und ausgefragt, doch der Fokus der Menge war eindeutig.Nach einer Weile begriff ich seine kaum merklichen Gesten und die überdeutliche Mimik. ‚Redet mit Ihnen. Seid sichtbar, seid zugänglich und freundlich. Sie alle brauchen Stärke und Hoffnung.'Es war fast, als höre ich ihn zu uns sprechen.
Und obwohl ich ihn verstand und auch in seiner Rolle als Anführer bewunderte, merkte ich doch die bleierne Müdigkeit, die noch schlimmer geworden zu sein schien – und die daraus entstehende Ungeduld.Ich war kein Ausstellungsstück – und ich brauchte selbst Kraft und Hoffnung. Plötzlich lief wie zufällig Louis neben der Prozession her. Er beachtete seinen Vater nicht mehr als die anderen Vorbeiziehenden und auf einen fast unmerklichen Wink wurde unsere Gruppe plötzlich geteilt. Bevor ich es so richtig mitbekommen hatte, führte die Heilerin mich und Markus an, während mich Louis durch ein Bombardement von belanglosen Fragen von anderen Neugierigen abschirmte. Quentin und Aadil waren nicht mehr zu sehen. Wie hatte dieser Junge das nur angestellt?
Bald erreichten wir einen alten Klepper, der offenbar ursprünglich unter Louis Aufsicht gestanden hatte – der andere Junge verschwand nach einem raschen Grinsen – und Izanami zog aus dessen Satteltaschen ein wohlbekanntes Buch. "Du hättest es damals nicht zu Gesicht bekommen sollen. Es ist sehr persönlich und auch jetzt wirst du ohne richtige Anleitung wohl kaum besser zurechtkommen", meinte sie barsch, reichte mir aber dennoch den Einband.Danke für die ermutigenden Worte.Ich schluckte es hinunter und nahm vorsichtig den Lederband entgegen."Fang mit Seite sieben an. Wir werden schon sehen, was du damit erreichen kannst."
Missmutig starrte ich die gewiesene Seite an. Dann öffnete ich den Mund und wollte schon anfangen, als die Heilerin mir das Buch aus der Hand riss. "Nein, damit fangen wir heute ganz bestimmt nicht nochmal an, Mädchen!", fauchte sie. Verwirrt starrte ich sie an. "Weil...?""Weil du nicht einmal weißt, was der Zauber bewirkt. Und lüg' mich nicht an", fügte sie an. Sie klang streng, aber ruhiger als zuvor. "Aber ich kann nicht", murmelte ich, immer noch verärgert. "Ach, wenn das so ist, brauchen wir mit dem Unterricht gar nicht anzufangen."Verdattert starrte ich die Greisin an. In ihren grünen Augen funkelte eine Mischung aus Amüsiertheit und Verärgerung. "A-aber-", stammelte ich. In mir spürte ich Felicitas schadenfroh grinsen. "Und so schnell endet der sagenhafte Aufstieg der Magiern."Ich ignorierte sie.
"Du hast Glück gehabt, dass dein erster Zauber weder schädigend war noch fehlgeschlagen ist! Aber das berechtigt dich lange noch nicht zu weiteren Schüssen ins Blaue." Dann reichte sie mir den Einband zurück. "Aber ich kann es nunmal nicht lesen", erwiderte ich leise. "Alles, was ich sehe, sind Herkunft und Aussehen des Alpen-Goldregens.""Streng dich an. Sieh hinter den Schleier.""Schleier?"Ich starrte die ordentlichen Linien an, bis mir leicht schummerig wurde. "Ich kann nichts-"Abrupt hielt ich inne. "Ja?"Tatsächlich schien eine Nebelwand sich zu lüften. "Re-", begann ich, doch da war es bereits wieder verschwunden. Mir war flau, doch ich merkte es erst, als Markus mich darauf ansprach. "Warum haben Sie die Hand auf dem Bauch? Alles in Ordnung?""Nur etwas flau, nichts weiter", antwortete ich abwesend und starrte das Buch an. "Ich muss alles notieren, also sagen Sie mir bei allem Bescheid."Ich nickte, sah jedoch nicht auf. Mitten in den Zeilen war eine Silbe hinter den anderen Worten sichtbar geworden. Doch wieder war es verschwunden, bevor ich einen Sinn erkannte."En.""Re-en?", fragte Izanami vorsichtig. Ich schüttelte den Kopf, denn ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich laut gesprochen hatte. "Die Silbe ist aus einem anderen Abschnitt."
So kämpfte ich mich Stück für Stück durch den Text, und versuchte zu behalten, welche Silbe von welcher Stelle stammte. Gleichzeitig schien die Übelkeit immer penetranter zu werden. Doch im Vergleich zu meinen bisherigen Eskapaden war es beinahe erträglich. Es dauerte bereits eine Ewigkeit, und trotzdem hatte ich noch kein einziges Wort vollständig lösen können. Schadenfreude und Langeweile stiegen durch meine Gefährten in mir auf und lenkten mich ab. Von Felicitas kam - natürlich - das boshaftere Gefühl. Die Gefühle stiegen immer weiter in mir an, wie eine Flut, bis ich mich kaum noch konzentrieren konnte. "Haltet euch etwas zurück, ja?", meinte ich angestrengt. Ich spürte ihre Geister unangenehm deutlich an dem Meinen. Dabei war keiner von beiden aufgewühlt. Das konnte ja heiter werden. Ich konnte beinahe sehen, wie Hector sich unterwürfig auf den Boden drückte. Die Raubkatze dagegen wirkte eher auf eine herablassende Art gelassen, statt streitsüchtig. "Wie auch immer du glaubst, dass wir unsere Gefühle unterdrücken können", kommentierte sie beiläufig und ich erhielt ein kurzes Bild, wie sie sich die Tatze reinigte, ohne mich anzusehen. Ich schüttelte über mich selbst den Kopf. Sie hatte natürlich recht. Beinahe fünf Minuten konnte ich mich wieder auf den Text konzentrieren, ehe Hector es nicht mehr aushielt.
"Wenn ich etwas sagen dürfte?"Ich unterdrückte ein Seufzen. "Was gibt es, Hector?""Ich würde gerne bei der Verfolgung helfen. Deswegen habe ich-""Helfen? Ein tapsiger Welpe wie du?", fiel Felicitas ihm verächtlich ins Wort. In meinem Kopf sah ich geradezu, wie sie die Zähne zu einem unheimlichen Grinsen bleckte. Hector richtete sich auf, den Schwanz hoch erhoben. "Genau genommen habe ich eine bei weitem bessere Nase als du."Doch sein Zittern verriet ihn. "Und ein Welpen-Verhalten. Du könntest Gerüche noch nicht einmal differenzieren, wenn man sie zwei Schwanzlängen voneinander entfernt platzieren würde", höhnte sie."Das ist nicht wahr! Ich kann- ""Hört auf! Hector, was wolltest du sagen?"Mich erreichte das Bild, wie der Schwanz etwas herabsank, und er zu wedeln anfing. Schoßhündchen.Dieser Kommentar ging dem Puma durch den Kopf, doch sie fing den Streit nicht erneut an. "Ich habe mich gefragt, wohin er wohl wollte."Ich schwieg. "Deswegen denke ich, wir sollten ihm einfach hinterher.""Und das machen wir wie?"
Bevor der Windhund antworten konnte, riss Izanamis Stimme mich zurück in die physische Welt."Erde an Majikku! Liest du überhaupt noch das Buch?"Markus hielt mir einen Zettel unter die Nase. "Wir haben überlegt, ob du vielleicht besser lesen kannst, wenn du die Silben aufschreibst."Einen Moment lang starrte ich ihn nur irritiert an, dann begriff ich. "Das ist tatsächlich eine gute Idee. Und sobald ich mit Hector gesprochen habe, werde ich es auch ausprobieren.""Wer ist Hector?", fragte das Duo, doch ich ignorierte sie und schloss die Augen. "Also?""Er ist doch mit dir den Fluss hinauf geritten, oder?"Ich bejahte und registrierte am Rande Felicitas' Schaudern. "Warum folgen wir dann nicht einfach dem Flusslauf?"Ich unterdrückte ein Seufzen."Weil er auf dieser Route nicht geflohen ist.""Ich weiß", antwortete der Windhund geradezu fröhlich. "Aber er wollte so fliehen.""Was bedeutet...?""Gar nichts bedeutet das! Dieser Welpe weiß einfach nicht, wie man richtig jagt. Ohne die Menschen mit ihrem Getöse."Bevor ich auf die Raubkatze einreden konnte, fuhr Hector entschlossen fort: "Das bedeutet, dass irgendwo von diesem Fluss eine Duftspur von ihm ankommen oder abgehen müsste. Von irgendwo her muss er schließlich gekommen sein. Und soweit ich mich erinnere, hat dieser grausame Vogel doch gezeigt, dass dies die einzig brauchbare Wasserquelle in der Nähe ist. Also musste er auf jeden Fall am Fluss halten. Egal, ob er in der Nähe einen Unterschlupf hat, oder sich neues Wasser besorgen musste, weil er schon länger unterwegs war."Hätte er eine Gestalt gehabt, hätte ich ihn wohl verblüfft angestarrt. So blieb es bei einer Vorstellung dessen in meinem Kopf.
"Gar nicht so übel, Welpe", sagte Felicitas nach einer Weile. "Ich bin kein-", fing er an, doch sie redete einfach weiter. "Allerdings stellen sich dann zwei Fragen: An welchem dieser Ufer suchen wir? Und kannst du wirklich zwischen all dem Wasser den Geruch auffangen? Die Spur könnte zu alt für dich sein.""Ich habe seinen Geruch durch deine Nase mitbekommen. Und ich kann mich von den Beutetieren zurückhalten."Ich spürte ihre Belustigung, da Hector indirekt doch zugegeben hatte, dass ihn viele Gerüche reizen würden. Aber er war eben tatsächlich noch jung, und kein erfahrener Spürhund. Das brachte mich auf einen neuen Gedanken."Tanja kann mit ihrem Hund die andere Seite ablaufen. Und wir wissen jedenfalls, dass wir flussaufwärts müssen."Das hätte auch den Nebeneffekt, dass sie mir demnächst nicht mehr über den Weg laufen würde. Und vielleicht war das auch besser so. "Also schön - aber wenn du dich zu ungeschickt anstellst, übernehme ich. So langsam brauche ich ein paar Federn zwischen den Fängen", knurrte sie.Hector zögerte. "Einverstanden", murrte er schließlich.Ein paar Momente lang war ich wirklich versucht, in Felicitas' Geist nach der Ursache der aufgewühlten Gefühle zu durchsuchen – doch ich ließ es bleiben.Sie hatte mir die Sache mit dem Sturz noch nicht verziehen, da brauchte sie nicht auch noch mitbekommen, wie ich in ihren Erinnerungen wühlte.
Nach einem tiefen Atemzug richtete ich meine Aufmerksamkeit zurück auf das fragend dreinblickende Duo, dass außerdem etwas besorgt wirkte. Knapp erzählte ich von meinem zusätzlichen Gefährten und seiner Idee."Was haltet ihr davon?", fragte ich direkt. "Das klingt nach einem logischen Vorgehen. Allerdings können wir die Aufgabe des Anführers nicht einfach ignorieren", fügte Markus nachdenklich an."Und du bist sicher, dass du den Windhund unter Kontrolle hast?", fragte Izanami besorgt."Ganz sicher", antwortete ich beruhigend."Und was die Aufgabe angeht: Wie wäre es, wenn ich erst diese Seite entziffere und versuche, Magie anzuwenden, bevor ich mich mit Hector auf die Suche mache?"Beide wirkten einverstanden, wenn auch die Heilerin etwas widerwillig. Also nahm ich einen zweiten Stift samt Papier von Markus entgegen und begann von neuem.
Nach etwa dreißig Minuten hielt ich triumphierend grinsend ein eng bekritzeltes Blatt hoch. Markus' Mundwinkel zuckten leicht ob meiner Begeisterung – Izanami sah das Ganze nüchterner. "Nun, zumindest als Übersetzerin könntest du etwas taugen."Säuerlich starrte ich sie an."So?""Soweit ich weiß, konnten Magier diese Bücher fließend lesen. Und du brauchst bereits für eine Dechiffrierung der Anwendung der Magie so lange.
"Warum liest du es mir dann nicht vor?", entgegnete ich schnippisch. Izanami ging einfach darüber hinweg. "Da du jetzt weißt, worum der Zauber handelt, musst du den Schleier wieder darüberlegen und die Aspekte auflisten und mit Magie durchsetzen, die du erreichen willst."Ich runzelte die Stirn. "Wenn ich den Schleier wieder überwerfe, wird wieder nur der Text über den Alpen-Goldregen dort stehen. Und wie soll ich dann die Aspekte den passenden Worten des Textes zuordnen? Da müsste ich ja ein fotographisches Gedächtnis besitzen. Und selbst, wenn ich so etwas hätte, muss es noch einen Zwischenschritt geben. Ein ‚Alphabet' der Magie oder so ähnlich. Das waren schließlich bloß normale Worte.""Du vergisst die Volkszunge", mischte sich Markus ein."Für mich sieht das wie Kauderwelsch aus."
Verdutzt sah ich das Papier in meiner Hand an. Tatsächlich schienen sich die Buchstaben wandeln und entzerren zu wollen, wie strapazierte Gummibänder. Je mehr ich mich anstrengte, desto übler wurde mir. "Und was die Sache mit dem fotographischen Gedächtnis angeht, kannst du ja einfach immer wieder das Schriftbild wechseln, bis du dir die Bedeutung gemerkt hast."Ich verzog das Gesicht. "Meinetwegen. Ich versuche es."Innerhalb der nächsten Stunde wurde Markus Notizenliste immer länger und ich konnte mich kaum noch konzentrieren. Dementsprechend überrascht war ich, als meine zueinander gerichteten Handflächen tatsächlich für einen Moment von einer schwachen Brise auseinander gedrückt wurden.
Ich war so beschäftigt mit dem genauen Wortlaut, den möglichen Wirkweisen und den interessanten Notizen über hilfreiche Gesten und Gedanken-Kanalisierungs-Übungen, dass mich der abrupte Brechreiz eiskalt erwischte. Ich erbrach mich über Ayitas Seite und hörte die Heilerin murmeln:"Nun, immerhin ein Anfang.""Aber wie ich das sehe, könnte sowas wie ein Anfänger-Alphabet nicht schaden", meinte Markus in ähnlich nüchternem Ton, während er höchstwahrscheinlich diesen unangenehmen Moment auf Papier verewigte. "Also können wir jetzt endlich aufbrechen?", fragte Hector aufgeregt.Ich schluckte den Wunsch nach Mitgefühl zusammen mit den Resten an Galle hinunter und grinste schief. "Lasst uns ein paar Krähen aufscheuchen."


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Was habe ich das Schreiben vermisst!
Aber hier bin ich endlich wieder.
Über konstruktive Kritik würde ich mich wie immer freuen.

Nuoli

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jun 17 ⏰

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