10. Offenbarungen

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Elias

Schwer atmend stieß ich die Tür zu Izanami's Hütte auf. Doch hier unten war niemand. Hatten sie etwa doch gelogen, um mich daran zu hindern, mir das Leben zu nehmen? Das konnte und durfte nicht sein! So etwas wäre nicht lustig, das mussten sie doch einsehen! Da hörte ich das Knarren von Stufen und sah auf. Da stand Nyoko, auch wenn sie sich an die Wand lehnte. Ich konnte es nicht fassen.
Sie lebte!
Ich stieß einen Freudenschrei aus, umarmte sie stürmisch und ehe ich's mir versah, lagen wir schon auf dem Boden.
Freudig redete ich drauflos:
"Ich bin so froh, dass es dir wieder gut geht! Ich dachte schon, du wärst tot... Sag', wie geht es Majikku? Ist sie am Leben? Wenn ja, geht es ihr gut?"
Nyoko sah mich merkwürdig an und ich stand hastig auf, als ich begriff. Sie tat es mir nach und ging die Stufen nach oben. Dazu machte sie eine auffordernde Geste mit der Hand und lächelte leicht.
Also ging ich nach oben, während ich mich darüber wunderte, dass sie lächelte und sonst schwieg. Am Boden lag regungslos die weiße Taube Majikku. Hatte sie etwa nicht überlebt?
Doch Nyoko zerstreute meine Überlegungen, indem sie sagte:
"Sie lebt. Höchstwahrscheinlich schläft sie bloß. Auf jeden Fall -
Plötzlich hielt sie inne und erstarrte, während ihre Augen glasig wurden.
Dann verzerrte sich ihr Gesicht vor Anstrengung und... Angst. Doch als ich blinzelte, war der vor Anstrengung verzerrte Gesichtsausdruck dem Erstaunen gewichen. Dann schien sie angestrengt nachzudenken. Bevor ich Nyoko jedoch darauf ansprechen konnte, schüttelte diese leicht den Kopf und der glasige Ausdruck in ihren Augen verschwand.
Ohne mir irgendetwas zu erklären, starrte sie auf Majikku hinab und beobachtete sie aufmerksam.
"Könntest du mir vielleicht einmal erklären, was mit dir los ist?", fragte ich sie besorgt.
Doch Nyoko ignorierte mich, vielleicht nahm sie mich auch gar nicht mehr wahr.
Als auf einmal ein schwaches Lächeln auf ihrem Gesicht erschien, stellte ich meine Frage erneut, eindringlicher diesmal.
"Nichts ist mit mir los, nur -
Wieder unterbrach sie sich und diesmal verstand ich auch warum, denn blendend weißes Licht umhüllte Majikku!
"Was zum... sie kann doch nicht... dafür ist sie doch noch nicht stark genug!"
Offenbar verstand Nyoko immer noch mehr als ich. Denn es gab nur mehr als gar nichts.
Nyoko hockte sich vor Majikku und versperrte mir mit ihren langen, tiefschwarzen Haaren den Blick auf sie.
Ich wollte mich an ihre Seite knien, als sie mich anfauchte:
"Das wirst du ganz bestimmt nicht tun! Und falls du es wagst, diesen Raum noch einmal zu betreten, bevor du nicht anständige Kleidung hast, werde ich dir Manieren einprügeln, dass du drei Wochen nicht mehr trainieren kannst!"
Geschockt stolperte ich einige Schritte zurück.
"W-was ist denn überhaupt los!? Ich verstehe nur Bahnhof!"
Und schon wieder stotterst du. Wie peinlich.
Ich ignorierte die Stimme.
Entnervt seufzte Nyoko.
"So begriffsstutzig wie eh und je, was? Idiot! Sie hat nichts an, verdammt! Und jetzt verwinde, bevor ich mich vergesse und hol' ihr etwas Anständiges zum Anziehen!"
Mit hochrotem Kopf rannte ich aus dem Haus. Da Izanami keine weitere Kleidung im Haus hatte, außer der, die sie am Leib trug, blieb mir nichts anderes übrig:
Ich musste eine Frau um ihre Kleidung bitten.
Mit immer noch hochrotem, gesenktem Kopf, rannte ich aus dem riesigen Garten zu den Häuserreihen etwas abseits vom Eingang des Gartens.
Ich klopfte an irgendeinem Haus, was aussah, als könnte eine Frau darin wohnen.
Ich konnte erkennen, dass mir eine Frau öffnete:
"H-hättest du vielleicht ein Kleid und Unterwäsche?", fragte ich sie, während ich nur einen empörten Ausruf hörte. 
Verdammt! Du stotterst ja schon wieder!
"Du Perversling!", und bevor ich das Missverständnis aufklären konnte, hatte mir die Frau schon die Tür vor der Nase zugeschlagen.
Und ich konnte es ihr noch nicht einmal übel nehmen. Seufzend wandte ich mich ab und ging zum nächsten Haus. Ich wusste, das mein Gesicht die Farbe einer reifen Tomate haben musste, aber trotzdem hob ich den Kopf. Ich musste jedes weitere Missverständnis vermeiden. Zum Glück sah man mein feuerrotes Gesicht nicht unter der schwarzen Kapuze.
Also klopfte ich vorsichtig. Die Tür wurde mir geöffnet und mir blickte ein junges Mädchen entgegen, ungefähr so alt wie Majikku. Sie langes braunes Haar und grüne Augen. Sie würde genau die richtige Kleidergröße haben. Trotzdem verließ mich der Mut, als sie mich freundlich anlächelte.
"Ich möchte keinesfalls aufdringlich oder gar pervers wirken, aber ein Mädchen in ungefähr deinem Alter bräuchte etwas zum Anziehen, da ich keine weiteren Klamotten im Haus von Izanami gefunden habe. Könntest du mir, nein eher ihr, etwas zum Anziehen leihen?"
Gespannt erwartete ich ihr Reaktion, während ich angestrengt versuchte, nicht zu Boden zu schauen. Das Mädchen runzelte die Stirn, aber wenigstens schlug sie mir nicht sofort die Tür vor der Nase zu.
"Wofür braucht dieses Mädchen denn Kleidung? Hast du ihr etwa etwas angetan?"
"Nein, nein!", versicherte ich ihr schnell.
"Allerdings... ach, ich weiß einfach gar nichts! Nyoko hat mich einfach gebeten Kleidung für ein Mädchen in deinem Alter zu besorgen und nun bin ich hier! Bitte glaub mir!"
Das Mädchen stockte.
"Wer hat dich das gebeten?"
"Nyoko.," erwiderte ich schwach.
Ihr Gesicht hellte sich auf.
"Na, wenn dich Nyoko das gebeten hat, wird es schon einen triftigen Grund haben. Sie ist eine ehrliche, von Grund auf anständige Person. Warte kurz, ich hole nur kurz etwas..," sagte sie fröhlich und verschwand aus der Tür.
Ein paar Minuten später kehrte sie mit einem kleinen Bündel Klamotten zurück.
"Sonst noch etwas?", fragte sie mich lächelnd.
Hastig schüttelte ich den Kopf.
"Nein danke... obwohl, könntest du der Frau dort vielleicht erklären, wenn es nicht zu viele Umstände bereitet, dass das ein Missverständnis gewesen ist? Ich fragte sie ebenfalls nach Kleidung und jetzt hält sie mich für einen Perversen.", ich lächelte schwach.
Und sie lächelte tatsächlich zurück und nickte.
"Vielen Dank, nochmals! Verzeih' mir die Eile, aber ich denke, dass Mädchen braucht langsam etwas zum Anziehen!", rief ich über die Schulter, rannte zu Izanami's Hütte und spürte, dass ich erneut rot wurde.
Ich rannte zurück zum Haus, riss die Tür auf und schlug noch die Tür zu, bevor ich die Stufen hoch rannte. Schwungvoll riss ich die Tür auf, wollte gerade die Kleidung ins Zimmer legen und wieder verschwinden, als die Tür mit aller Kraft zu gestemmt wurde und man mir dabei fast die Finger brach.
Langsam verlor ich die Geduld:
"Na hör' mal! Das hier ist zwar nicht mein Haus, aber ich wollte nur die Sachen zum Anziehen vorbeibringen, nicht etwa gucken oder so!"
Nyoko riss die Tür auf, zischte mir ein Unfreundliches:
"Tschuldigung.", zu, riss mir der Klamotten aus der Hand und knallte die Tür zu.
"So freundlich!", rief ich so laut, dass Nyoko es auf jeden Fall durch die geschlossene Tür hören konnte. Dann marschierte ich die Treppen hinunter und versuchte, einen Tee zuzubereiten.

Als Nyoko, mit Majikku auf den Armen, schließlich runter kam, blickte ich Majikku an und vergaß den Tee. Sie hatte ein langes blaues Kleid an, dass sie beinahe königlich wirkte. Dazu lächelte sie schüchtern, was das Bild perfektionierte.
Plötzlich schrie mich Nyoko an und zerstörte so den wunderbaren Moment:
"Elias!? Was machst du da!? Hast du etwa versucht, Tee zuzubereiten?! Warum das denn!? Und jetzt kocht er dir auch noch über!" 
War ja klar, dass sie sie mich anfahren würde, anstatt sich bei mir für ihr unfreundliches Verhalten zu entschuldigen.
Was sie dabei wohl so empfindlich machte?
Nyoko setzte Majikku vorsichtig auf einer Treppenstufe ab, rannte an meine Seite und riss den Topf von der Feuerstelle.
"Du bist wohl immer noch ein Versager, was kochen angeht, was?", fragte sie mich genervt, aber auch belustigt.
Ich stutzte.
So kannte ich Nyoko ja gar nicht. Ich wusste überhaupt nicht, dass sie auch mal lustig sein konnte.
Dann jedoch, wandte sich meine Aufmerksamkeit wieder Majikku zu.
"Was ist mit Majikku? Ist sie verletzt oder gar zu schwach zum Laufen?"
Schmerz überschattete für einen kurzen Moment Majikku's Gesicht, doch sie schwieg.
Plötzlich spürte ich einen brennenden Schmerz an der Seite meiner Wange. Als ich hinsah, erkannte ich, dass Nyoko mir eine Ohrfeige gegeben hatte.
"Das du aber auch immer so taktlos sein musst! Also wirklich!"
"Was ist denn?!", zischte ich wütend.
"Was ist daran falsch, jemandem nach seinem Wohlergehen zu fragen?! Langsam habe ich wirklich genug davon, mich von dir rumkommandieren zu lassen! Das hier ist ein Haus einer Heilerin, weswegen es erst Recht nichts Falsches daran gibt, sich um das Wohlergehen anderer Leute zu sorgen!"
Ich hob die Hand und wollte ihr meinerseits eine Ohrfeige gegeben, doch Nyoko packte mich am Handgelenk meiner schon erhobenen Hand und riss meinen Arm so schnell herum, dass ich es weder sehen, oder gar darauf reagieren konnte. Dazu riss sie so stark meinem Arm, dass mein ganzer Körper so sehr herum gedreht wurde, dass ich mit einem so harten Schlag, dass ich aufkeuchte, weil mir die Luft aus den Lungen gepresst wurde, auf dem harten Boden landete.
Majikku schrie erschrocken auf, doch ich registrierte es gar nicht.
"Was ist denn los mit dir!? Ich verstehe dich wirklich nicht! Ehrlich! Was ist denn daran so schlimm, wissen zu wollen, was mit ihr los ist!? Warum bist du so aufgebracht?! Ist denn so schwer, mir das zu erklären?!"
Ich riss an ihrem Handgelenk und diesmal funktionierte es. Ich brachte sie aus dem Gleichgewicht und sie stürzte zu Boden.
Da sie nun neben mir lag, flüsterte ich ihr ins Ohr:
"Es tut mir wirklich aufrichtig leid, dass ich dich nicht verstehe, aber deinerseits musst du einsehen, dass ich es eben nicht verstehen kann, wenn du mir nur die Hälfte erzählst. Ich weiß wirklich nicht, was ich noch hätte machen sollen, um dir das begreiflich zu machen. Wärst du vielleicht so freundlich, es mir jetzt richtig zu erklären? Ich weiß es nämlich wirklich nicht, falls ich irgendwas wissen sollte."
Nun flüsterte auch Nyoko:
"Dir kann es gar nicht wirklich leid tun, wenn du ja angeblich nicht einmal weißt, was du falsch gemacht hast."
Einen Moment schwieg sie, ihre Augen glühten.
"Du bist so ein Idiot. Ein vergesslicher, dummer, taktloser, absolut durchschaubarer Idiot. Dabei solltest du es doch besser wissen als ich. Es ist nicht mal eine halbe Woche her, wenn ich genauer darüber nachdenke, sind es nur drei Tage. Und trotzdem hast du vergessen, dass Majikku eine körperliche Behinderung hat. Wie schwach. Und da fährst du mich an, obwohl du doch derjenige bist, der sich hier gerade wie der letzte Arsch benimmt!"
Sie stand ruckartig auf und drehte sich zu Majikku um.
"Wenn ich dich richtig verstanden habe, Majikku, dann willst du Aadil Neuigkeiten bringen, richtig? Wenn das so ist, dann sollten wir uns jetzt sofort auf den Weg machen. Bei wichtigen Neuigkeiten sollte man keine unnötige Zeit verlieren!"
An mich gewandt flüsterte Nyoko:
„Und wenn du auch nur ein Wort sagst, was sie verletzen könnte, dann liegst du schneller am Boden, als du Entschuldigung sagen kannst!"
Fassungslos schüttelte ich den Kopf.
Ich war doch so ein Idiot! Und da beschuldigte ich auch noch Nyoko mich zu beschuldigen!
Nyoko nahm vorsichtig Majikku auf die Arme und schritt, mit verächtlichem Blick auf mich, aus der Tür.
Schnell rannte ich ihr hinterher, um sie ja nicht aus den Augen zu verlieren. Wer wusste schon, was eine wütende Nyoko vorhatte. Vielleicht würde sie die ganze Sache so herum drehen, dass nur noch ich etwas Schlimmes getan hatte.
Wer wusste das schon.
Ich rannte in den Fels, wo sich Aadil's Büro befand. Der steinerne Tunnel, der sich vor uns erstreckte, bildete einen perfekten Halbkreis und machte, trotz der vielen Fackeln, einen düsteren Eindruck. Der Tunnel bog ständig zur Seite oder hatte mehrere Tunneleingänge, doch Nyoko wählte immer ohne zu zögern einen Weg. Obwohl ich schon so viele Jahre hier war, war ich noch nie allein in die Tunnel hinein gegangen, denn ich hätte mich sonst hoffnungslos verlaufen. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Majikku mit den Fingerspitzen über die vollkommen glatte Felswand strich und Angst und Entsetzen über ihr Gesicht huschten.
Ich stutze.
Was machte ihr so sehr Angst?
Doch als ich Nyoko's wütenden Blick bemerkte, richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf den Tunnel.
In unregelmäßigen Abständen kamen wir an schlichten, dunklen Holztüren vorbei, doch Nyoko hielt bei keiner auch nur kurz inne. Während wir immer weiter durch die Gänge wanderten, wurde mir zum ersten Mal bewusst, wie wenig ich doch über den Unterschlupf der Neko und ja auch meinem Unterschlupf, wusste und wie egal es mir bisher gewesen war.
Ich blieb stehen und klopfte an einer Tür, da mich die Neugier trieb.
Das vorsichtige Klopfen hallte so unnatürlich laut im Tunnel wieder, dass wir alle, Majikku, Nyoko und ich, zusammenzuckten.
Mit alarmiertem Gesichtsausdruck wirbelte Nyoko herum und versuchte panisch, mir etwas zu übermitteln, was allerdings mit Majikku auf den Armen schlecht ging.
Verwundert hielt ich inne.
Warum redete sie denn nicht mit mir und warum war sie so panisch?
"Was ist denn los?," fragte ich Nyoko vorsichtig und blanke Wut und reines Entsetzen überfluteten ihre, sonst so beherrschten, Gesichtszüge.
Bevor ich länger darüber nachdenken konnte, wurde plötzlich mit lautem Quietschen die Tür geöffnet.
"Ja?", fragte eine alte, heisere Stimme.
Ich wirbelte wieder zurück zu der Tür.
Vor mir stand ein klappriger, alter Mann und starrte mich an. Seine Beine schienen zu dünn zu sein, um diesen Körper zu tragen und der Oberkörper war so abgemagert, als hätte er seit Jahren nichts mehr gegessen. Seine Arme und Finger waren ungewöhnlich lang und dürr, was ihn wie eine menschliche Spinne aussehen ließ. Zumindest die, die noch da waren. An seiner linken Hand fehlte ihm der Mittelfinger und an der rechten der Daumen. Es waren nur noch kurze, eitrige Stummel und der Geruch von verwesendem Fleisch erfüllte die Luft. Auch einige seiner Zehen fehlten und der ganze Rest seines Körpers, war von Narben übersät. Spuren vieler, harter Kämpfe. Sein Haar war lang und schmutzig, als hätte auch dieses jahrelang nicht mehr gepflegt. Dazu war er nackt bis auf einen alten, schmutzigen Lumpen um seinen Unterkörper.
Doch was mich am meisten entsetzte, war die Tatsache, dass die Augenhöhlen dieses Mannes leer waren. Es befanden sich keine Augen mehr dort, wo sie eigentlich sein sollten. Ich konnte einfach nicht anders, als entsetzt zurück zu stolpern und mir die Hand vor die Nase zu schlagen. 
Wer ist dieser Mensch?! Wo kommt er her?! Was macht er hier!? Wieso ist mir noch nie aufgefallen, dass hier Menschen wohnen?!
Entsetzt, hilflos und fragend drehte ich mich zu Nyoko und versuchte, ihr über meine Augen klar zumachen, dass ich keine Ahnung hatte woher dieser Mensch kam.
Plötzlich trat sie näher und verbeugte sich vorsichtig vor diesem Menschen.
"Ehrwürdiger Eret. Entschuldigt die Störung. Wir wollten euch nicht stören. Wir haben uns bloß in der Tür vertan. Wenn Sie uns jetzt entschuldigen würden... "
Vorsichtig schob sie den Mann wieder in die Tür und schloss sie.
Den ganzen Weg bis zu Aadil's Büro, warf mir Nyoko tödliche Blicke zu und sprach kein Wort mehr. Als wir schließlich vor Aadil's Büro standen, öffnete sie die Tür, zog mich grob mit hinein und knallte sie zu.
Ohne auf Aadil's überraschtes Gesicht zu achten, fuhr sie mich an:
"Du bist so dämlich! Der dämlichste Mensch, den es auf diesem Planeten gibt! Warum, zur Hölle, musstest du ausgerechnet die Tür von dem ehrwürdigen Eret öffnen!? Und dann musste ich dir auch noch aus der Patsche helfen! Der ehrwürdige Eret verlässt seit Jahren nicht mehr seine Wohnung. Warum musstest ihn denn jetzt, nach so vielen Jahren, dazu bringen, seine Tür zu öffnen!?"
Inzwischen schien auch Aadil verstanden zu haben, worum es ging, denn er unterstützte Nyoko's Aussage:
"Du hast den ehrwürdigen Eret aufgeweckt und ihn dazu gebracht, die Tür zu öffnen?! Also wirklich, Elias, von dir hätte ich bessere Manieren erwartet! Oder hast du etwa die Geschichte von dem ehrwürdigen Eret vergessen!?"
Nein. Dunkel erinnerte ich mich an die Geschichte des ehrwürdigen Eret. Aber dieser abgemagerte, ungesunde Mann, den ich in dem Tunnel getroffen hatte, konnte unmöglich der starke, unbesiegbare, ehrwürdige Eret sein. Niemals! So heruntergekommen konnte nicht mal der Älteste der Krieger werden! Und wenn er wirklich der ehrwürdige Eret war, warum hatten sie ihn dann an diesem Ort verfrachtet?
Eine schüchterne Stimme unterbrach meinen Gedankengang:
"Ähm, entschuldigt die Störung, aber ich bin hierher gekommen, um Informationen mit Ihnen zu teilen, die ich erworben habe, als ich vor Elias weggelaufen bin."
Erwartungsvoll unterbrach ich meinen Gedankengang.
Was hatte sie zu erzählen?
Jetzt richteten sich alle Augen auf Majikku und da wurde sie doch noch nervöser, als man es für möglich gehalten hätte.
Majikku holte tief Luft und begann:
"Als ich vor Elias weggelaufen bin, nahmen mich gewisse Leute in ihrem Gewahrsam und ich konnte mich nicht wehren da ich... Naja, ich bin schwach geworden und mir wurde übel, als ich mich vor Elias versteckt hielt. Ich weiß nicht wieso, aber das ist ja auch nicht weiter wichtig."
Ich tauschte einen bedeutungsvollen Blick mit Aadil. 
Woran das liegen mag? Zuerst habe ich an ihre Magie gedacht, aber ich habe noch nie davon gehört, das einem Magier oder einer Magierin übel wurde oder dass sie schwach wurden! Was mag es sonst nur sein? 
"Jedenfalls, als ich wieder zu Bewusstsein kam, blickte ich direkt in die glühend weißen Augen eines Karasu."
Aadil und ich keuchten entsetzt auf, nur Nyoko blieb ruhig.
"Ich sah mich um und erkannte, dass ich eine Taube war, worüber sich der Karasu sehr amüsierte. Er verwandelte sich, unter gleißendem Licht, in eine schwarze Krähe, woher wahrscheinlich ihr Name kommt. Und..."
Ab da wurde ihr Blick glasig und ein Schatten fiel auf ihr Gesicht:
"... Und er verspottete mich. Er verspottete mich dafür, dass ich in diesem Tier gefangen war und mich nicht wehren konnte. Er prahlte damit, dass sich ja jeder in ein Tier verwandeln könnte, wenn er nur das nötige Vertrauen in sich selbst und den Glaube an Magie habe. Er machte sich über mich lustig. Während er mir das erzählte, riss er mir bei jedem Wort ein Bündel Federn heraus oder schlug mir so heftig in den Bauch, dass ich beinahe Blut gespuckt hätte. Daher wahrscheinlich der erste Lungenriss."
"Das hat dir ein Mitglied der Karasu angetan!? Daher kamen die federlosen Stellen und der Lungenriss!? Oh, dafür werden sie büßen!"
Tödliche Blitze schossen aus Majikku's Augen, als sie scharf erwiderte:
"Lass den Quatsch! Hast du schon vergessen, dass ihr den Unterschlupf nicht finden konntet? Sowieso, dürfte ich jetzt weitererzählen?"
Ich stutzte.
Woher wusste sie das? Sie hatte wirklich Mut mir so vehement und bestimmt zu widersprechen!
Doch ich nickte, wenn auch widerstrebend.
Majikku nickte ebenfalls und fuhr fort:
"Da flog eine zweite Krähe dazwischen und hielt die erste Krähe, Taurus, auf. Nicht aus Mitleid mir gegenüber, sondern, weil er keine Informationen weitergeben sollte. Taurus beschuldigte die zweite Krähe, Aurelius, des Verrats und es kam zum Kampf. Es scheint so etwas wie Feindschaft zwischen ihnen zu stehen. Warum, kann ich nicht sagen."
Sie machte eine kurze Pause.
"Aurelius gewann und ließ Taurus schwören, mich freizulassen und die Beleidigungen, die zwischen ihnen geflogen waren, zurückzunehmen. Wie abgemacht, ließ Taurus mich frei und öffnete das Fenster. Doch, Aurelius hatte in ihm nicht verboten, mich zu quälen. Er zündete mein Gefieder an und ich floh. Es tut mir wirklich leid, dass ich mich nicht genau umgesehen habe, aber ich wollte einfach nur schnell weg. Wenig später fand mich Elias."
"Willst du damit etwa sagen, dass auch die Verbrennungen von diesem Ekel Taurus stammen!? Und dass sich jeder, wirklich jeder, in ein Tier verwandeln kann?!"
Majikku zögerte.
"Naja... Ich weiß ja nicht, ob das so einfach ist... Außerdem kann man sich nur in ein Tier verwandeln und dabei bleibt es dann... Aber im Endeffekt ja. Ich habe mir auch schon ausgedacht, dass sich alle in dieser Organisation als irgend eine Art von Raubkatze verwandeln könnten. Ich meine, was ist effektiver gegen Krähen, als eine Raubkatze? Wenn das alles ist, würde ich gerne gehen. Ich bin schon viel zu lange hier, meine Mutter macht sich bestimmt Sorgen."
Entsetzt starrte ich sie an:
"Moment mal, was? Du willst gehen? Vergiss es! Du bist Teil der Prophezeiung!"
Langsam drehte Majikku ihren Kopf zu mir herum.
Mit Augen, die unleserlich waren, fragte sie tödlich leise:
"Und woher, woher nimmst du das Recht, das zu bestimmten?"
Völlig geschockt antwortete ich:
"Welches Recht?! Ich benutze kein Recht. Das Einzige, was ich tue, ist, die Tatsachen klar zustellen. Du gehörst zur Prophezeiung und damit hierher! Du kannst nicht einfach wieder weggehen."
Immer noch tödlich leise, fuhr sie fort:
"Ich gehöre also hierher, gehorche und kämpfe, ohne jedes Wenn und Aber?"
Erleichtert nickte ich.
"Ja."
"Und ich nehme an, ich werde auch nicht dazu kommen, mich von meiner Familie zu verabschieden und ihnen zu sagen, wo ich bin? Ich kämpfe für also für die Organisation, ohne zu wissen gegen wen oder zu welchem Grund?"
Bevor irgendwer in diesem Raum, auch nur zu einer Antwort ansetzen konnte, schrie sie:
"Was für eine verdammte Logik ist das denn?!"
"Ich verbringe doch nicht den Rest meines Lebens bei einer Organisation und bei Menschen, von denen ich nicht mal weiß, wofür sie kämpfen! Ich verlasse doch nicht meine Familie für eine ungewisse, einfache, vielleicht sogar irrtümliche Prophezeiung! Eine Prophezeiung ist nichts weiter als ein paar Sätze! Sie haben nicht mehr Macht als ein Satz in irgendeinem Buch! Und selbst wenn, woher wollt ihr wissen dass ich diejenige bin!? Wieso werde ich da mit hineingezogen?! Ich habe mich wirklich bemüht, geduldig zu sein, aber hier geht es um den Rest meines Lebens! Wie kommt ihr darauf, dass sich da so einfach mit mir spielen lasse!? Wie kommt ihr darauf, dass ich überhaupt mit mir spielen lasse?! Ich meine, ihr habt überhaupt kein Recht, mich hier festzuhalten! Wie lautet die Prophezeiung überhaupt?!"
"Das ist im Moment überhaupt nicht wichtig, Hauptsache ist, dass du hier bleibst!", erwiderte ich hitzig.
"Und ob das wichtig ist!", explodierte Majikku.
"Das hier lasse ich mir nicht länger gefallen! Ich gehe! Und zwar sofort!"
Majikku wand sich aus Nyoko's Armen, riss sich am Schreibtisch auf die Füße und ging an der Wand zur Tür.
Sie hatte die Tür schon geöffnet, als ich Nyoko anfuhr:
"Sag' mal, warum hast du sie gehen lassen?! Jetzt wird sie weglaufen!"
"Weglaufen? Weglaufen?! Ist das dein Ernst?"
Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie Majikku's Hand am Tunnel abrutschte und sie zu Boden fiel.
"Merkst du denn nicht, wie hilflos sie ohne ihren Gehwagen ist? Sie wird nirgendwo hinlaufen."
Nyoko schien noch etwas sagen zu wollen, doch sie schwieg. In dem Moment fing Majikku hemmungslos an zu weinen.
Sie rollte sich zu einem kleinen Ball zusammen und schluchzte:
"Sie hat so recht... Ich bin absolut hilflos... Ich kann nirgendwo hingehen, ich kann nicht meinen Willen durchsetzen, ich kann nicht nach Hause, ohne, dass mir irgendwer hilft... Ich bin so schwach!"
Dann gab sie sich einen Ruck, rollte sich wieder auseinander, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und versuchte vergeblich, sich an der Wand hochzuziehen.
Da flackerte wieder Angst in ihrem Gesicht auf und dann schrie sie:
"Wer zum Teufel hat diesen Tunnel erfunden?! Der ist viel zu glatt, um sich daran festzuhalten!"
Dann schien sie sich etwas anderes überlegt zu haben, denn sie kroch den Tunnel entlang. Wie ein Tier, auf allen Vieren!
Ich hörte sie nur leise murmeln:
"Ich werde mich ganz bestimmt nicht geschlagen geben und hier herumheulen, um auf ein ungewisses Schicksal zu warten. Oh nein!"
Nun folgte ihr Nyoko und kniete sich an ihre Seite, während Majikku ungerührt weiter kroch. Nyoko folgte ihr und sagte etwas, doch ich verstand sie nicht mehr. Während Majikku weiter kroch und scheinbar versuchte, Nyoko zu ignorieren, sprach diese immer weiter.
Auf einmal kippte Majikku auf die Seite, als hätte man ihr alle Kraft genommen. Bevor ich mich auch nur rühren konnte, kam Nyoko schon mit einer bewusstlosen Majikku auf den Armen zurück.
"Was hast du mit ihr gemacht?!", schrie ich entsetzt.
Nyoko antwortete seelenruhig, wenn auch mit einer Spur Bedauern ihrer Stimme:
"Ich habe sie nur überzeugt, dass du die Wahrheit sprichst, sie hierbleiben muss und dass diese Prophezeiung kein alberner Scherz ist. Um es ihr zu beweisen, habe ich bloß die Prophezeiung wiederholt und Majikku's magische Seite muss gespürt haben, dass es die Wahrheit war. Mehr habe ich nicht getan. Ich werde sie jetzt zu Izanami bringen, damit sie den Schock verdauen kann, hierbleiben und kämpfen zu müssen."

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