9. Kämpfe

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Elias

Völlig entsetzt und verdutzt starrte ich den kleinen, weißen Vogel in meinen Händen an.
Hat die Taube gerade gesprochen? Wie hat sie das gemacht? Woher kennt der Vogel meinen Namen? Dieses Tier soll Majikku sein? Gibt es noch eine andere Majikku oder ist dass die, die ich kenne? Wenn es die Majikku ist, die ich kenne, wie kann sie eine Taube geworden sein? Wie soll das denn gehen?
Diese und viele andere Fragen stürmten auf mich ein.
Plötzlich fing Majikku, egal ob es die war, die ich kannte oder nicht, sie hieß Majikku, an zu husten. Der Hustenanfall wurde immer stärker und stärker, bis aus dem Schnabel der Taube Blut kam!
Das riss mich aus meiner Schockstarre.
"Schnell! Holt einer Izanami! Wo ist sie nur, wenn man sie braucht?!", schrie ich über den Platz, während ich zu meinem Entsetzen feststellen musste, dass meine Stimme leicht zitterte.
Ein athletischer junger Mann rannte los, ich war vor Schreck wie erstarrt.
Was mach' ich nur? Sie wird sterben!, durchzuckte es mich.
Glücklicherweise kam genau jetzt Izanami. Sie riss mir Majikku aus den Händen und rannte in Richtung Garten.
Ich wollte ihr folgen, doch sie rief:
"Verschwinde, Elias! Du bist keine Hilfe für mich, außer du kannst mir die Eberraute gegen den Husten und Glockenheide gegen die Entzündung und das Fieber holen!"
Völlig überrascht blieb ich stehen. Izanami schien wirklich wütend auf mich zu sein, doch warum, wusste ich nicht. Leider wusste ich weder, wie eine Eberraute oder eine Glockenheide aussahen, noch, wo ich sie finden konnte.
"Majikku hat Fieber?", fragte ich also besorgt, auch, um von meinem Unwissen abzulenken.
Sie murmelte irgendwas, doch bevor ich sie fragen konnte, was sie gesagt hatte, war sie schon verschwunden.
Wütend wandte ich mich um und lief aus dem Geheimversteck.
Was haben die denn alle? Warum bin am Ende immer ich Schuld? Warum darf ich nicht helfen?

Ich rannte in den Wald und suchte ein paar Minuten nach der Spur. Gerade als ich mich bückte, um dass, was ich am Boden gefunden hatte, vielleicht war es ja die selbe Spur wie gestern, zu untersuchen, hörte ich ein Rascheln.
Reflexartig zog ich in einer fließenden Bewegung mein Schwert und wirbelte herum.
Wie es schien, hatte ich gerade rechtzeitig gehandelt, denn im nächsten Moment traf ein Dolch meine Klinge. Wenn ich mich nicht rechtzeitig umgedreht hätte, hätte der Dolch mich wahrscheinlich getötet. Ich wollte mich nach dem Dolch bücken, um ihn aufzuheben, da er ja nach dem Aufprall herunter gefallen sein musste, doch dort lag nichts.
Plötzlich hörte ich ein Surren, doch ich war noch zu irritiert vom fehlenden Dolch, dass ich nicht rechtzeitig zurückweichen konnte. Diesmal traf mich ein Dolch am Arm und ich spürte einen stechenden Schmerz am linken Oberarm.
Zum Glück nicht mein rechter Arm. Ohne Schwert wäre ich machtlos.
Machtlos.
Das Wort schwebte über mir wie ein Damoklesschwert. Wieder hörte ich ein Rascheln, diesmal direkt hinter mir.
Erneut wirbelte ich herum und wieder traf ein Dolch meine Klinge.
"Wer bist du und was willst du von mir?", fragte ich meinen Gegner laut.
Als Antwort bekam ich jedoch nur ein Rascheln und im nächsten Moment schossen zwei Dolche auf mich zu. Unter den Ersten duckte ich mich und den Zweiten wehrte ich mit meiner Klinge ab.
Plötzlich bemerkte ich etwas.
Die Dolche waren an Ketten befestigt. Im nächsten Moment zogen die Dolche sich blitzschnell nach links zurück. Ich tat, als hätte ich es nicht gesehen und wartete auf den nächsten Angriff. Wieder erklang das Surren, doch ich sah keine Dolche, was meinen Plan, den Standort des Gegners herauszufinden, ruinierte.
Dann traf der siebte Dolch meine Klinge.
Wieso habe ich den Dolch nicht gesehen?, dachte ich entsetzt und verwirrt.
Um nicht weiter als Zielscheibe herumzustehen, rannte ich zu einem der Bäume und versuchte hochzuklettern, was sich wegen meiner Verletzung am Arm als schwerer herausstellte als gedacht. Da wurde ich wütend und ein roter Nebel legte sich über mein Blickfeld.
Warum unterbricht mich wer oder was auch immer bei meiner Suche? Warum versteckt sich mein Gegner wie ein Feigling? Wer ist mein Gegner überhaupt?
Bevor ich den Baum vollständig hochklettern konnte, traf mich ein nächster Dolch im rechten Unterschenkel.
Ich hörte ein Knacken und spürte, dass ich am Baum festgenagelt worden war.
Ich schrie, da ein unglaublicher Schmerz von meiner Wade in das Bein hochschoss.
"Was willst du von mir?!"
Der Dolch löste sich so plötzlich aus meinem Bein, dass ich stürzte. Ich war so wütend, dass man mich von der Suche abhielt , dass mein Gegner sich versteckte und dass ich der Taube nicht helfen durfte, dass ich den Schmerz gar nicht mehr spürte. Ich sprang auf und wirbelte herum. Überraschenderweise versteckte sich mein Gegner nicht mehr, sondern stand direkt vor mir, was mich einen Moment erstarren ließ.
"Du hast immer noch Saile? Ich dachte du würdest es auch mal wechseln.", sagte eine Stimme.
Ich stutze.
Woher kennt mein Gegner den Namen meines Schwertes?
Dann jedoch fasste ich mich wieder und blickte meinem Feind ins Gesicht.
Blutrote Augen blitzten mir entgegen und im nächsten Moment schossen fünf Dolche auf mich zu. Ich war so außer mir, dass ich in letzter Sekunde einen wahnsinnigen Entschluss fasste.
Ich riss Saile zum Schutz hoch. Wie erwartet, schlägelten sich die Dolche um mein Schwert, doch bevor mein Gegner es mir aus der Hand reißen konnte, drehte ich die Klinge blitzschnell um und rammte sie in den Boden.
Den Moment der Überraschung des Gegners nutzte ich, indem ich den Dolch aus meinem Stiefel riss und auf den Gegner zusprang. Ich warf ihn um und stach wütend auf ihn ein. Ich traf die, von mir aus gesehen, rechte Schulter und hörte das Brechen von Knochen. Ich wollte den Dolch herausreißen und erneut zustechen, als ein markerschütternder Schrei erklang.
Der lichtete mein rotes Blickfeld und plötzlich erkannte ich den 'Gegner' unter mir.
"Nyoko?!", fragte ich entsetzt.
"Warum hast du das getan?!", schrie ich sie ungläubig an, während sie mir ein schwaches Lächeln zuwarf.
"Ein Test. Nichts weiter.", sagte sie und fügte hinzu:
"Du bist gerade irgendwie anders gewesen, aber ich weiß nicht wie. Auf jedenfall warst du besser als sonst. Auch wenn du immer noch Saile hast."
"Und warum hättest du mich nicht einfach auf dem Trainingsplatz testen können?! Und wozu dann das Versteckspiel?!", schrie ich sie an.
Ich war wütend.
Wütend auf sie, dass sie sich versteckt hatte, mich so verletzt hatte und so gelassen blieb. Aber auch wütend auf mich, dass ich sie nicht erkannt hatte und sie so verletzt hatte.
Und dass ich so... Ja, was eigentlich? Ich hatte mich einfach nur benommen wie ein wildes Tier. Wütend, verletzt und gereizt. Ich war mir sicher, wenn Nyoko nicht so geschrien hätte, hätte ich sie ohne mit der Wimper zu zucken getötet und auch weiter gemordet. Einfach alles und jeden, der mir über den Weg lief.
Ich schauderte.
Wann bin ich so zum Tier geworden? Wann habe ich angefangen, ohne jemanden zu erkennen, zu verletzen und wahrscheinlich auch zu töten?
Ich dachte angestrengt nach. Ja, das war, als ich wütend am Baum festgenagelt worden war. Plötzlich kam mir noch ein Gedanke, der mich erneut schaudern ließ. Wenn ich aus irgendwelchen Gründen auf einem Schlachtfeld wütend werden sollte, würde ich die Gegner und die Verbündeten angreifen. Und das würde den Tod für alle bedeuten, außer vielleicht Aadil und den Anführer oder die Anführerin der Karasu. Die Beiden wären die Einzigen, die mich aufhalten könnten. Trotzdem wäre es ein schrecklicher Verlust an Kämpfern, Kämpferinnen, Heilern, Heilerinnen und vielen Menschen mehr. Wir brauchten sie alle, insbesondere Nyoko.
Apropos Nyoko...
Ich wollte schnell von Nyoko herunter gehen, um sie nicht aus Versehen wütend zu machen. Ich wollte sie entschuldigend ansehen und dann aufstehen, doch was ich sah, ließ mich innehalten. Nyoko liefen lautlose Tränen über die Wangen, die sich mit dem Blut vermischten, was von meinem Arm auf ihr Gesicht tropfte, während sie mich anlächelte.
Ich stutze.
Nyoko hatte noch nie richtig gelächelt, geschweige denn geweint, sie schien keine richtigen Gefühle zu besitzen, doch was ich jetzt sah, bewies das genaue Gegenteil.
"So groß und erwachsen ist mein kleiner Bruder nun schon geworden... Wann ist es so weit gekommen, dass du dich schämst, bei deiner großen Schwester zu liegen?"
Völlig verwirrt starrte ich sie an. Schließlich sprach ich die wirren Gedanken aus, die mir durch den Kopf schwirrten:
"Du warst immer so verschlossen, in deiner eigenen Welt. Du warst kalt und gefühlos. Wie hätte ich da normal mit dir reden können? Du hast niemanden richtig an dich rangelassen und irgendwann dachte ich, dass du keine Gefühle mehr hast. Du wurdest immer mehr eine Fremde statt einer großen Schwester für mich. Ich habe irgendwann beschlossen, um mich nicht selbst zu verletzen, dich so zu behandeln, wie du mich behandelst. Kalt, emotionslos und alles andere als wertschätzend."
Schock, Schmerz und Verwirrung standen Nyoko allzu deutlich ins Gesicht geschrieben, als sie antwortete:
"Ich habe dich immer freundlich behandelt! Zu den anderen bin ich so, weil sie es ausnutzen würden, wenn sie sehen würden, dass ich Gefühle habe! Aber zu dir war ich nie so! Du kannst sehr wohl sehen, wie ich mich fühle!"
Ich zögerte, bevor ich antwortete:
"Manchmal konnte ich tatsächlich etwas sehen, zum Beispiel als du ins Badezimmer geplatzt bist. Da habe ich gesehen, dass du dich gefreut hast. Aber diese Momente sind sehr selten. Meistens kann ich nicht erkennen wie du dich fühlst. Meistens ist dein Gesicht eine ausdruckslose Maske, die eine Menge Macht ausstrahlt. Was ich noch nie geschafft habe, ist zu wissen, was du gerade denkst."
Plötzlich wechselte Nyoko das Thema:
"Sag' mal, wieso trägst du eigentlich immer diesen Mantel? Dann kann man dein hübsches Gesicht ja gar nicht sehen.", sagte sie vorsichtig, nahm meine Kapuze und streifte sie von meinem Kopf.
Ich zögerte, ihr die Wahrheit zu sagen, doch schließlich entschloss ich mich, es ihr zu erzählen, da Nyoko ja sozusagen meine große Schwester war.
"Ich trage diesen Mantel, weil ich nicht will, dass die Leute sehen, was ich fühle, was ich denke. Aber anders als du, kann man in meinem Gesicht die Gedanken und Gefühle nur allzu deutlich ablesen. Um dass zu verhindern, trage ich diesen Mantel."
In der kurzen Gesprächspause bemerkte ich etwas Kühles, Hartes in meiner rechten Hand. Automatisch sah ich hinüber und schrie auf, als ich den Dolch, den ich festhielt, in Nyoko's Schulter sah.
Blitzschnell riss ich ihn heraus und erkannte sofort meinen Fehler, denn nun floss unaufhörlich Blut aus der Wunde.
Ein schmerzvolles Stöhnen verließ Nyoko's Lippen, doch sie schrie nicht.
Hektisch kramte ich nach der Magiersalbe, die mir Aadil, nicht ohne eine ausführliche Predigt, wie wertvoll die Magiersalbe sei und wie verschwenderisch ich gewesen war, gegeben hatte und fand sie auch nach kurzem Suchen. Ich nahm etwas von der Salbe und trug es auf die Wunde auf. Sofort floss die Wunde zusammen und stoppte so den Blutfluss.
Der Nachteil dieser Salbe war jedoch, dass Sehnen, Muskeln, Knochen und Organe nicht geheilt wurden. Das hieß, dass Izanami sich um die Heilung der Knochen, Sehnen, Organe und Muskeln kümmern musste. Izanami hatte auch meine Muskeln am Bauch wiederhergestellt, als Majikku mich angegriffen hatte. Ich beschloss mich zu beeilen, um Nyoko unnötige Qualen zu ersparen. Ich sprang auf und Nyoko ebenfalls.
Plötzlich stöhnte Nyoko erneut und kippte zur Seite.
Ich konnte sie gerade noch auffangen, bevor sie am Boden aufgeschlagen wäre. Ihr Gewicht ließ mich auf die Knie sinken, da meine verletzte Wade das plötzliche, zusätzliche Gewicht nicht halten konnte.
Sie war ohnmächtig geworden, stellte ich nach einem schnellen Blick auf Nyoko fest.
Erneut kramte ich nach der Magiersalbe und trug sie auf meine Wade und meinen Arm auf, da ich ja jetzt eine gute Strecke mit zusätzlichem Gewicht zu laufen hatte. Fast augenblicklich verschwand der Schmerz, bis auf ein dumpfes Pochen und ich seufzte wohlig. Dann streifte ich die Kapuze wieder über mein Gesicht, stand, mit Nyoko's Gewicht auf den Armen, auf, legte ihre Haare in ihren Schoss und humpelte los.

Die mit vielen NamenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt