Heimkehr

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Wenig später erblickte Kira den Hof ihrer Eltern nahe des Schlangenflusses. Das umzäunte Gelände lag geschützt in einer flachen Talsenke, die durch den Flussrand begrenzt wurde. Sie hastete die letzten Meter des steinigen Weges hinunter, riss die massive Tür des Hauptgebäudes auf und ließ sie knallend zufallen. Im Inneren duftete es nach frisch gebackenem Brot. Erst jetzt spürte sie den bohrenden Hunger. Zum Glück waren noch Milch und Käse da.

Nachdem sie eine Kleinigkeit getrunken und gegessen hatte, ließ Kira sich verwirrt auf ihr Bett sinken und dachte nach. Hin und wieder blickte sie ängstlich in Richtung Tür. Draußen wurde es langsam dunkler. "Eigentlich müssten sie bald hier sein". Ungeduld machte sich in ihr breit. Es war Erntezeit und ihre Eltern waren auf dem Feld, das Getreide einholen. Manchmal half ihr kleiner Bruder Marko dabei. Ihn hätte sie noch am ehesten hier erwartet. Aber er war nicht hier.

Sie ging aus ihrem Zimmer durch die aufgeräumte Küche und sah aus dem Rückfenster auf die gelben Kornfelder. Hier und da ließen flache Strohhaufen die Fläche wie eine kleine Hügellandschaft aussehen. Kira liebte diesen Anblick, den Duft und den immerwährenden Wechsel der Jahreszeiten. Wenn sie nur mithelfen dürfte! Aber das ging nicht. Inmitten des gelben Getreidmeeres sah sie Bewegungen. Langsam näherten sich drei Personen, zwei große und eine kleinere.

Kira lächelte und fühlte sich erleichtert. Eine Minute später schwang die schwere Haustür auf und ihre Mutter kam herein, ihren Bruder an der Hand haltend. Ohne ein Wort rannte Kira quer durch den Raum und stieß sich ein Knie, ehe sie ihre Mutter heftig umarmte. Sie duftete nach Heu und Geborgenheit.

"Du blutest!" Marko griff nach ihrer Hand und befühlte sie. Er liebte seine große Schwester und sorgte sich um sie - nervtötend oft. Zumindest empfand sie das so.

"Was ist mit Dir, mein Kind?"
Ihre Mutter streichelte Kiras Schultern, die aber keinen Ton herausbrachte. Zitternd trat sie einen Schritt zurück und verschränkte die Arme, die Finger bohrten sich in das braune Gewebe ihres Überwurfs. Ihre Augen funkelten im flackernden Kerzenschein. Nur stockend brachte sie es heraus: "Ich glaube es ist soweit."
Ihre Mutter erblasste schlagartig. Sekunden lang starrte sie regungslos an die Wand. Als sie die ganze Tragweite der Worte erfasst hatte, schloss sie ihre Arme um den schlanken Körper ihrer Tochter. Sie sahen einander an.
"Was macht Dich sicher? Hast Du ihn gesehen?"
"Drüben bei der alten Hütte. Aber irgendwie war alles anders als sonst." Marko tippelte nervös mit seinen Füßen. "Was ist soweit?" Unsicher sah er die beiden an. "Hat es mit dem komischen Mann zu tun?"

Nachdenklich setzte er sich auf einen der schweren Eichenstühle und ließ Luna, seine selbst geschnitzte Glutkröte, durch seine Finger gleiten. Das tat er, wenn er unsicher war. Plötzlich erhellten sich seine Gesichtszüge und er schüttelte heftig seinen Lockenkopf. "Er wird Dich nicht bekommen! Ich weiß es einfach!"
"Du weißt?" Kira schaute ihre Mutter verwirrt an. Diese zuckte mit den Schultern und lächelte.
"Ich glaube, da hat jemand ohne unser Mitwissen gelauscht."
Sie warf einen strafenden Blick in Markos Richtung. Dieser strich über Lunas Panzer, der anfing schwach zu leuchten. Hastig verbarg er sie in seinen Handflächen.
"Ach Mama! Ich habe mir nur Sorgen gemacht. Vor wenigen Wochen habt ihr geheimnisvoll geflüstert. Weißt Du noch? In der Nähe des Westerpfades, auf dem Rückweg nach Hause. Da konnte ich nicht weghören."
"Ich erinnere mich, mein Sohn. Onkel Krinn war ausnahmsweise nicht betrunken an diesem Tag." Ein ausgedehntes Lächeln huschte über ihr Gesicht.

Sie griff nach einem Stuhl, setzte sich hastig und seufzte: "Also gut. Es zu verheimlichen war ohnehin keine gute Idee. Der Mann, den Kira meint, ist ein sogenannter Detektor. Wo er herkommt, weiß ich nicht, aber die Leute hier erzählen sich, dass alle Detektoren im Auftrag des Hochfürsten von Khoor handeln und besondere junge Menschen aufspüren sollen."

Marko ließ Luna vor Schreck fallen. Ihr Leuchten erlosch sofort. Seine Mutter hob die kleine Holzstatue behutsam auf und stellt sie auf den Tisch. Beruhigend fuhr sie etwas leiser fort: "Detektoren interessieren sich nur für ältere Kinder. Sie beobachten sie aufmerksam, manchmal Wochen, manchmal Monate. Deiner Schwester ist er zum ersten Mal letzten Winter aufgefallen, als sie versuchte den Schnee um unseren Hof schmilzen zu lassen und deinen Schneemann aus Versehen zerstörte."

Einen Atemzug später lag Luna auf Markos Beinen und wurde liebevoll gestreichelt. Seine Finger glitten anders als sonst unsicher über den harten Körper des Tieres: "Warum tun diese Tecktecktoren das? Das ist doch total anstrengend. Und gefährlich bestimmt auch."

Tränen kullerten über Kiras rosige Wangen. Verzweifelt sah sie ihre Mutter an und flüsterte: "Onkel Krinn erzählte, dass sich jene, die von den Detektoren ausgewählt wurden, gefährlichen Tests unterziehen müssen. Diejenigen, die überleben, gelten als besonders mutig und schlau. Sie regieren das Land oder bekleiden andere wichtige Ämter." Markos Gesichtszüge erhellten sich, als er das hörte. Seine Schwester als Fürstin? Das wäre wahnsinnig aufregend. Er musterte sie kurz und sah, dass sie zitterte. Unruhig wanderten ihre dunklen Augen durch den Raum, ohne an einem Punkt Halt zu finden. Auf einmal bekam er große Angst. Was, wenn sie nie wieder nach Hause käme?

Sekundenlang herrschte Stille. Ruckartig bewegten sich die Fensterläden im Rhythmus des aufkommenden Windes. Die wenigen erleuchteten Kerzen warfen tanzende Schatten an die Wände. Alle wussten, dass etwas Unumkehrbares passieren würde, etwas, dessen Ende nicht abzusehen war. Am wenigsten für Kira.

"Sieh es als Chance, etwas aus deinem Leben zu machen, mein Kind. Hier, inmitten von Getreide und Tieren, wirst Du dich nicht entfalten können. Du bist wundervoll und überaus begabt. Gut. Feldarbeit liegt Dir eher weniger."
Liebevoll zwinkerte sie ihrer Tochter zu. "Menschen wie Du sind vielleicht für besondere Aufgaben gemacht. Ich spüre, dass Du hier oft unglücklich bist." Kira dachte nach. Was sollte besonders daran sein, aus kleinen Flammen große zu machen oder umgekehrt? Was nicht immer klappte. Sie konnte ja nichts dafür, das sie deswegen ständig Ärger bekam und nichts durfte.

Mit erstickter Stimme platzte es aus ihr heraus: "Ich möchte aber nicht weg! Es ist schön hier und ich habe Angst davor, dass nichts mehr sein wird wie bisher. Mir wird schlecht wenn ich daran denke, euch verlassen zu müssen."
Sie sah Marko an. "Wer bringt dann meine Kette zum leuchten, wenn ich mich im Dunklen fürchte?" Tastend ergriff sie die warme Hand ihrer Mutter. "Wer ist für mich da, wenn ich traurig bin? Wer, wenn ich nicht mehr weiter weiß? Wer? Wer??"
"Wir sind immer für Dich da Kira. Ganz sicher. Egal was passiert."

Hastig sprang Marko auf und rannte so schnell in die Schlafecke, als ob alle Übel der Welt hinter ihm her wären. Er zerwühlte seine Kissen und hielt nach einigen Flüchen mit einem Leuchten in seinen braunen Augen ein hölzernes Schwert in die Höhe: "Sollte Dir jemand etwas tun, werde ich ihn eigenhändig in die Flucht schlagen. Jawohl!" Mit einer ausladenden Bewegung schnitt er kraftvoll Risse in die Luft und umtanzte wie ein wahnsinniger Gnom einen unsichtbaren, aber zweifelsohne gefährlichen Gegner. Nachdem dieser gefühlt zwanzig Male gestorben war näherte er sich der Wohnungstür, warf ihr ein wüstes "sollen Sie alle kommen!!" entgegen -und erstarrte, als deutlich Stimmen vor dem Haus ertönten. Nur eine davon erkannte er wieder.

Eine Sekunde später standen Vater und ein Fremder inmitten des Raumes. Der Mantel des großgewachsenen Neuankömmlings wies zahlreiche Verbrennungsspuren auf. In seiner rechten Hand ruhte ein dunkler, schlangenförmiger Stab. Knapp nickend, lächelte er den Anwesenden zu. Mit voller Stimme sprach Kiras Vater Regher, sichtlich erschöpft von der Feldarbeit: "Wir haben einen Gast."

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