"Bist Du bereit?"
Barn hob einen Arm und auf dieses Zeichen hin ertönte ein dröhnender dunkler Ton, der erst lauter, dann leiser und irgendwann kaum mehr hörbar war. Ingwer wurde immer entspannter, je länger sie lauschte und verlor sich in Gedanken. Ob es dem Jungen genauso ging? Zunächst geschah nichts auffälliges. Nach wenigen Minuten fühlte es sich so an, als ob die Ausläufer der Kristallader wie ein Herz pulsierten, so als ob der Berg Barn einlud, zumindest für eine Weile ein Teil seiner selbst zu werden.Nach etwa einer halben Stunde wurde die Atmung des Jungen heftiger, das auf und ab der weißen Ader immer intensiver. Ingwer sah gebannt zu und merkte zunächst nicht, dass Elis aufgestanden war und eine Kerze entzündet hatte. Irgendwann herrschte fast völlige Dunkelheit. Sehen konnte sie nahezu nichts, aber hören um so mehr. Barn schien Schmerzen zu haben, denn er stöhnte in einem fort.
"Was ist...", weiter kam Ingwer nicht, denn mit einer eindeutigen Geste schnitt die blaue Frau ihr das Wort ab. Sie wirkte konzentriert und im Schein der Flamme schimmerten Schweißperlen auf ihrer Stirn. Mit einem Griff in ihre Tasche zog sie etwas hervor, dass aussah wie ein Pilz und hastete nach unten. Sie wechselte das Tuch auf Barns Stirn, schnitt einen Teil des Pilzes mit einem Messer ab und legte es in den Mund des Jungen, was Ingwer aber nur erahnen konnte.
Dann kehrte sie zurück. Ohne Barn aus den Augen zu lassen flüsterte Elis: "Das ist ein Kalenderpilz. Er hilft gegen Schmerzen und Angstzustände. Kennst Du dich mit Kräutern und Panzen aus?"
"Um ehrlich zu sein hat mich das bisher nicht interessiert."
"Sollte es."
"Habt ihr Bücher darüber?"
"Einige. Ich kann sie Dir leihen wenn Du möchtest."
Ingwer nickte. Für die nächsten Stunden waren dies die letzten Worte, die gesprochen wurden. Elis war vertieft in ihre Aufgabe, sich um Barn zu kümmern. Sie gab ihm mehrmals zu trinken, streichelte sein Haar in den Momenten, in denen sein schmächtiger Körper so heftig zitterte, als würde ihn etwas in Stücke reißen und litt selbst enorm unter der Anstrengung, die das Ritual für sie bedeutete.Die Luft wurde zusehends unerträglicher. Ingwer bekam schlecht Luft und hatte ihr Zeitgefühl völlig verloren. Tiefe Müdigkeit bemächtigte sich ihrer und es gab nichts, das sie hätte wach halten können. Die Schreie des Todgeweihten hätten sie bei Sinnen gehalten, aber es war nichts dergleichen zu hören gewesen. Merkwürdig. Von irgend woher blendete sie ein überirdisch helles Leuchten, dass fast sofort wieder in die Dunkelheit zurückel. Im Augenblick zwischen diesen Phasen sah sie Barns Körper, angespannt und ausgezehrt. Sie nahm Bewegungen wahr. Es ertönte eine hohle Stimme, die so klang, als ob alle Wörter der Welt erst völlig zermalmt einen Sinn ergaben: "Lass uns schlafen. Ich möchte nicht gestört werden."
Irgendjemand hob Ingwer vorsichtig hoch und trug sie Richtung Ausgang. Als sie den Vorraum betraten raubte ihr ein beißender Gestank das letzte bisschen Atem. Bevor sie in einen tiefen Schlaf fiel, entdeckte sie ein helles Tuch, dass einen reglosen Körper auf dem Altar fast vollständig bedeckte. An einer Seite des steinernen Bettes ragte eine Stoffspitze über den Rand hinaus und eine dunkle, zähe Flüssigkeit sammelte sich darunter in einer breiartigen Lache auf dem Boden.
***
Die nächsten Tage fühlte Ingwer sich schlapp. Sie aß kaum und obwohl sich Elis rührend um sie kümmerte und sogar versuchte, sie mit Scherzen aufzuheitern, waren ihre Gedanken düster. Alpträume suchten sie nachts heim, einer grausamer als der andere. Mehrmals wachte sie nachts schweißgebadet auf, als zerfetzte, schreiende Körper in ihrem Kopf Jagd auf sie machten.
Weitere Rituale fanden nicht statt. Zumindest hatte Elis ihr das versprochen. Verkraftet hätte sie das auch kaum. Prüfen konnte sie das nicht, denn der kleine Raum blieb ihr Gefängnis, so sehr sie auch bat, nach draußen gehen zu dürfen. Immerhin hatte man ihr die Fesseln abgenommen, so dass sie sich freier bewegen konnte und es gab regelmäßig etwas zu essen. Den Himmel, die Sonne und alles andere vermisste sie trotzdem. Möglichkeiten zu iehen schien es nicht zu geben.
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Die Sucher - Das Geheimnis der Spürsteine
Teen FictionDie 15-jährige Kira besitzt eine tödliche Gabe. In ihrer Nähe werden aus Kerzenflammen kopfhohe Feuer, schrumpfen große Brände zu glimmenden Aschehaufen. Sie wird gefürchtet und gemieden, lebt ziellos in den Tag hinein. Bis sich in einem Frühling al...