Lange mussten sie nicht suchen. Jack saß in sich versunken auf den Stufen einer kleinen Bäckerei.
Er hob den Kopf, als er die Schritte der beiden hörte. Sofort sah er in eine andere Richtung.
Kira setzte sich neben ihn, kramte aus ihrer Tasche einen Apfel hervor und hielt ihm diesen unter die Nase. "Mach Dir nichts draus."
Zunächst reagierte er nicht, nahm das Obst dann doch und biss hinein. Nach einer Weile fing er an zu erzählen:
"Mein Vater hat mich oft allein gelassen mit allem. Tagelang. Manchmal kamen Männer wie Tule, die Geld zurück verlangten, weil er besseres zu tun hatte, als sich um seine Käufer zu kümmern. Ich habe immer versucht, es ihnen recht zu machen. Oft klappte das, aber wenn mal Geld fehlte, waren einige von ihnen stinksauer."Er zog seinen linken Ärmel hoch. Auf seinem Oberarm befand sich eine wulstige Erhöhung, die die Zahl 67 darstellte.
Kira starrte ungläubig auf die schlecht verheilte Narbe. "Das hat mir einer der Kunden hinterlassen, damit ich nicht vergesse, wie viele Säcke Getreide wir ihm noch schulden. Ich werde ihn nie vergessen."Kira schluckte und deutete auf die Narbe: "Darf ich?" Jack nickte tonlos. Vorsichtig zeichnete sie die Erhöhung der Haut mit ihrem Zeigefinger nach. Sie fühlte sich warm und weich an. Die Wunde war sehr ungleichmässig verheilt. Welch unfassbare Schmerzen das gewesen sein müssen! Auf diese Weise behandelt zu werden verdiente kein Mensch.
Ingwer verschwand in der Bäckerei und kehrte mit einem halben süßen Brot zurück. "Von solchen Leuten hast Du die Nase voll, oder"? Kauend setzte sie sich zu ihnen und reichte Kira und Jack ein Stück der Köstlichkeit.
"Mehr als genug. Am liebsten hätte ich ihm eine verpasst. Schätze mal, das gehört sich nicht mehr. Leider."
"Ich halte nichts von Prügeleien. Ob wir nun Sucher sind oder nicht," sagte Kira.
Sie sah Jack eine Sekunde lang in die Augen und konnte in deren Tiefen die Wut ahnen, die gerade Besitz von ihm ergriffen hatte. Er ballte die Fäuste und starrte auf einen unsichtbaren Punkt am Horizont.
"Ja. Ich verstehe es. Manchmal wünschte ich mich älter und stärker. Dann würde mich niemand mehr so angehen."
"Glaubst Du." Ingwer lächelte und gab Jack ein Stück süßes Brot. Jack biss ein Stück ab und murmelte kauend: "Das ist ziemlich gut."Kira sah in den Himmel. Langsam zogen dunkle Wolken auf, kühler Wind drang in die kleinsten Ecken der Stadt. "Nimm es Dir nicht zu Herzen. Du kannst nichts dafür, dass Dein Vater sein Leben nicht im Griff hat."
"Genau. Wer immer schuldig ist, du bist es nicht." Ingwer brach ein weiteres Stück Brot ab.
"Es ist lieb von euch, aber so einfach ist das nicht. Ohne mich wäre mein Vater nie so erfolgreich geworden. Er dachte, dass ich es schaffen würde, immer mehr Getreide wachsen zu lassen, egal wie das Wetter ist. Irgendwann ging es nicht mehr. Ich war nur noch müde und ständig drehte sich alles, aber da hatte er in seiner Gier schon vielen Getreide versprochen. Einige gaben ihm vorab Geld, weil sie ihn lange kannten und schätzten."
"Du kannst Getreide wachsen lassen?"
Jack sprach leise weiter: "Ich kann Pflanzen wachsen oder schrumpfen lassen. Einige Bauern in der Umgebung wunderten sich bereits, warum wir selbst in schlechten Jahren gute Ernten hatten. Es war schwer, das geheim zu halten aber ich bin clever.""Irgendwie ist das unfair." Kira flüsterte nun ebenfalls. "Mein Vater ist Bauer. Würde er von Deiner Kraft wissen, wäre er außer sich vor Wut. Er arbeitet viel, tagein und tagaus."
"Ich weiß, dass es nicht fair ist. Deshalb habe ich damit aufgehört. Aber seitdem geht alles den Bach runter." Er senkte beschämt den Kopf.
"Immerhin weißt Du, was Du kannst. Ich weiß nur, dass bei mir diese komischen Steine, die die Detektoren bei sich tragen, nicht funktionieren. Meine Tante meinte, dass ich für die Kräfte anderer unempfindlich bin." Ingwer aß den letzten Rest Brot auf.Kira wirkte überrascht: "Was bedeutet das?"
"Keine Ahnung. Sie wollte nicht mehr sagen." Ingwer ahmte Quinias Tonfall nach: 'Das herauszufinden gehört zu deiner Aufgabe als Sucherin.' "Manchmal geht sie mir auf die Nerven mit ihrer Heimlichtuerei.""Ich mag sie, auch wenn ich sie kaum kenne. Woher kommst Du? Jack und ich sind hier aus der Gegend."
"Geboren wurde ich im Feuerwald. Der liegt einige Tagesreisen im Osten. Meine Eltern waren Jäger. Ich fand es dort schön."
"Ist das nicht der Wald, der ständig brennt? Dort sollen Tag und Nacht Feuer wüten und niemand weiß, wann und wo es erneut ausbricht."Jacks schien das neue Thema eine willkommene Ablenkung zu sein. Seine Laune besserte sich rasch.
"Ein Wollhändler aus dem Süden verlor bei der Durchreise seine gesamte Ware, weil in der Nacht unter seinem Wagen ein Feuer ausbrach. Er konnte gerade noch fliehen." Ingwers Augen verengten sich etwas:
"Was die Leute sagen stimmt. Meistens. Es dort friedlich, weil sich niemand, der bei Sinnen ist, länger dort aufhält. Wir haben am östlichen Rand des Waldes gewohnt und hatten immer die Möglichkeit, zu fliehen.
Südlich des Waldes stehen Hügel. Von einem dieser Hügel kann man auf das Dach des Waldes sehen. Unzählige Rauchsäulen bohren sich in den Himmel, wie die sich krümmenden Finger eines zornigen Gottes."
Kira überlegte. "Wenn es dort ständig brennt, warum gibt es den Wald noch?"
"Das habe ich mich auch gefragt. Irgendwie brennt der Wald nicht richtig."
"Hä?" Jack schien das wenig zu überzeugen. "Entweder, etwas brennt oder nicht. Wenn ja, ist es irgendwann weg."
"Natürlich brennt es dort, aber langsamer, als ob die Bäume und Pflanzen besonders robust sind. Es dauert extrem lange, bis von ihnen nur noch ein Häufchen Staub übrig ist.""Das ist komisch." Kira musterte Ingwer und dachte nach. Groß gewachsen war sie nicht, aber irgendetwas in ihr ließ sie stark erscheinen. Kira hatte Respekt vor ihr, ohne sagen zu können, warum. Vielleicht war es ihre Unbekümmertheit oder die Tatsache, dass sie sonderbare Dinge erlebt haben musste, die jeden anderen durcheinander gebracht hätten. Ob sie es überspielte?
"Wächst mir ein zweite Nase oder warum schaust Du mich so an?"
Kira fuhr zusammen, fing sich aber schnell wieder. "Ich habe eine Idee, was Quinia gemeint haben könnte. Kommt."
Sie zog die beiden mit sich und deutete in Richtung Torfschenke. Jack ahnte wo sie hin wollte, hatte dazu aber sichtlich wenig Lust.
"Vertrau mir," sagte sie aufmunternd. Statt durch die Eingangstür zu gehen, klopfte sie an eine Tür auf der Rückseite des Gebäudes.
Ein hagerer Mann mittleren Alters mit einem Handtuch auf der Schulter und einer üblen Zahnlücke öffnete.
"Was wollt ihr?"
"Dürfen wir kurz eure Feuerstelle nutzen?"
"Ihr seid die neuen Sucher? Hab euch vorhin gesehen. Kommt rein."
"Danke." Die drei betraten die Küche. Die Kochstelle befand sich ihnen gegenüber. Kira ignorierte diese und ging zum Kamin unweit der Tür. Oberhalb der breiten Feuerstelle hing ein Kessel Erbsensuppe.
"Gib mir Deine Hand Ingwer."
Ingwer streckte ihre Hand zögerlich hin. "Mach keinen Mist." Kira ergriff sie, hockte sich vor das Feuer und konzentrierte sich. 'Hoffentlich geht das gut' dachte sie, als sich die Flammen merkwürdig unrhythmisch zu bewegen begannen. Sie wuchsen und schrumpften sekundengleich.Kira begann zu schwitzen, nicht nur wegen des Feuers. "Jetzt." Sie schob Ingwers Hand in die züngelnden Flammen, die alle Finger vollständig in grellem Licht verschwinden ließen. Sekunden lang war kein Ton zu hören. Alle schienen einen Aufschrei des Schmerzes zu erwarten, aber außer dass Ingwer ihre Hand langsam herauszog und halb überrascht, halb erstaunt in die Runde sah, geschah nichts.
"Es ist nur warm." Ingwer besah sich ihre Hand ungläubig. Verbrennungsspuren waren kaum zu sehen, nur leichte Verfärbungen.
"Dieses merkwürdige Feuer verletzt mich kaum. Das ist echt verrückt."Kira wandte sich von den Flammen ab und griff instinktiv nach Jacks Ärmel, um nicht umzufallen. Vor ihren Augen drehte sich alles und nur langsam konnte sie wieder einen klaren Gedanken fassen.
"Alles in Ordnung?" Jack wirkte besorgt. Kira nickte tapfer und lächelte Ingwer an: "Versuche es."
Zur Probe hielt diese ihren Handrücken in die Nähe des Feuers, verzerrte aber sofort das Gesicht. "Du hattest Recht Kira. Die Kraft wirkt auf mich nicht so stark. Das ist irre."
Jack stuppste die beiden an. "Trotz dieser Erkenntnis sollten wir vielleicht gehen." Er nickte in Richtung des anwesenden Koches und seiner Gehilfen. Sie waren zurückgewichen und sprachen kein Wort. Ein kleines Mädchen, kaum älter als sieben, umklammerte mit den Armen
das rechte Bein einer dunkelhaarigen Frau. Kira erkannte sie als eine der Kellnerinnen. Der Koch deutete unmissverständlich auf die Tür:
"Macht das ihr wegkommt. Wir wollen keinen Ärger."
"Habt keine Angst. Wir gehen. Danke, dass wir uns aufwärmen durften." Kira lächelte freundlich und öffnete die Tür.
Unsanft schob der Koch die drei hinaus. "Angst? Wer hat Angst? Wir sehen jeden Tag Hände, die in heißem Feuer leuchten statt zu verbrennen. Ihr seid nicht normal. Geht. Sofort."
Mit einem Krachen fiel die Tür ins Schloss.Wenn Euch gefällt was ihr lest, würde ich mich über einen Vote sehr freuen. Kommentare lese ich gerne und bin für alle Meinungen und Hinweise dankbar. Also: traut euch und schreibt, was ihr denkt.
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Die Sucher - Das Geheimnis der Spürsteine
Teen FictionDie 15-jährige Kira besitzt eine tödliche Gabe. In ihrer Nähe werden aus Kerzenflammen kopfhohe Feuer, schrumpfen große Brände zu glimmenden Aschehaufen. Sie wird gefürchtet und gemieden, lebt ziellos in den Tag hinein. Bis sich in einem Frühling al...