Himmel

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"... And, that's all. Thanks for listening", meint Selia, das Mädchen, das gerade vor der Klasse steht und die vergangenen zwei Minuten über ihre Lieblingshandtasche geredet hat.

"Danke Selia. Setz dich", sagt unser Englischlehrer. Während die Angesprochene wieder auf ihren Platz geht, schaut der Lehrer über seine Notizen und fragt anschließend: "Also... wer muss denn noch seinen Talk halten?"

Die von ihm genannten "Talks" waren mit Abstand die schlimmsten Dinge dieses Schuljahres. Zwei Minuten blanker Horror. Jedenfalls für mich. Zwei Minuten über ein von uns gewähltes Thema auf Englisch reden, um am Ende eine Note zu bekommen, die dir einzeln quasi nichts bringt. Zwei Minuten, in denen dich jeder aus deiner Klasse anstarren kann. Oder eben über dich lachen.

"Also auf meiner Liste stehen noch Ella, Timon, Valerie, Aman, Michel und..." ,kurze Pause, "Felicia."

Verdammt. Er hat mich nicht vergessen und mein Name ist nicht auf magische Weise vom Papier verschwunden.

"Wer fängt an? Michel? Danke."

Die anderen Talks ziehen an mir vorbei, ohne dass ich wirklich etwas davon mitbekomme. Ich erwache erst wieder aus meiner Traumwelt ohne Talks und Präsentationen, als meine beste Freundin Malia mich anstupst und mir zuflüstert: "Du bist dran, du packst das!"

Langsam stehe ich auf und gehe nach vorn, immer in der Hoffnung, dass noch irgendetwas meinen Talk verhindert.

So müssen sich früher die Verurteilten auf dem Weg zum Galgen gefühlt haben.

Ich spüre auf dem Weg nach vorne schon, wie mein Herz immer schneller schlägt und sich so anfühlt wie kurz vor dem Stillstand.

Als ich dann vorne stehe und die ganzen Blicke meiner Mitschüler auf mir spüre, werfe ich nochmal einen Blick zu meinen Freundinnen, die mich nur aufmunternd anlächeln.

Zitternd bringe ich die letzten Worte meines Vortrages aus mir heraus, bevor mein Lehrer mir andeutet, zurück auf meinen Platz zu gehen. Mit dem Gefühl gleich zusammenzubrechen, flüchte ich auf meinen Platz.

Wie immer fährt mein Herz Achterbahn und mein ganzer Körper zittert.

Ich lasse mich auf meinen Stuhl sinken und vergrabe mein Gesicht in den Händen. Ich spüre bereits, wie die ersten Tränen meine Wangen hinunterlaufen. Meine Freundin und Sitznachbarin Tara fährt mir mit der Hand über den Rücken, während mir Malia von der anderen Seite eine Packung Taschentücher zusteckt. Möglichst leise fahre ich mir damit über das Gesicht.

Scheiß Angst. Ich kann nicht vor Menschen sprechen, ohne zu zittern und danach zu weinen. Scheiß Angst.

Solche Präsentationen sind jedes Mal der blanke Horror für mich. Ständig überlege ich, was die Anderen von mir halten und ob sie einen Grund haben, über mich zu lachen. Egal wann, egal wo. Aber am schlimmsten ist es, wenn ich irgendwo im Mittelpunkt stehe. Komplett egal, dass Andere mir versichern, dass man nicht über mich lachen wird. Komplett egal, dass ich eigentlich gut in Englisch bin. Komplett egal, dass ich meiner jetzigen Klasse eigentlich vertraue. In so einem Fall schaltet sich einfach alles ab.

Meine Angst ist so weit ausgeprägt, dass ich mich später meistens nicht mehr an das erinnern kann, was während des Vortrags und in den Minuten danach passiert ist.

Hinter mir beugt sich Leon über seinen Tisch und flüstert mir zu: "Du warst gut, keine Sorge. Keinen Grund zu weinen." Er hat ja Recht. Ich weiß nicht mal, wieso ich weine. Es bricht einfach aus mir heraus und nach spätestens zehn Minuten höre ich auch wieder auf. Bis mein Herz sich beruhigt und ich aufhöre zu Zittern dauert es manchmal noch mehrere Stunden.

Und während ich zitternd und völlig fertig dasitze, weiß ich wieder, dass ich für die nächsten Stunden zu nichts zu gebrauchen sein werde.

Scheiß Angst.

Autor: Anonym

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