,,Verdammt nochmal, bleib stehen! Avon, halte dieses Huhn auf!"
Mit einem Ruck wurde Avon aus seinen Tagträumen geweckt und sah verwirrt um sich her. Irgendwo aus unmittelbarer Nähe konnte er das Gackern eines Huhnes wahrnehmen, gefolgt von schnellen Schritten. Er ließ den Rechen, auf den er sich stützte, fallen, und rannte dem Gackern nach. Aus dem gegenüberliegenden Maisfeld kam das Geräusch. ,,Na warte, dich habe ich gleich!", sagte Avon leise zu sich selbst und kämpfte sich einen Weg durch das Maisfeld. Zwischen den Geräuschen von Stechmücken und seinen eigenen Fußstapfen wurde das Gegacker lauter. Ein schelmisches Lächeln huschte über sein Gesicht als er das Huhn sah. Auf Zehenspitzen näherte er sich an, die Arme angespannt. Innerlich zählte er langsam bis drei uns stürzte sich auf es. Lachend lag im Dreck.
,,Hab ich dich! Nächstes Mal musst du dir ein neues Versteck einfallen lassen. Das Maisfeld hast du jetzt schon drei mal diese Woche als Fluchtort genutzt." Die Gräser raschelten erneut und es näherten sich Schritte.
,, Hast du es, Avon? Bitte sag mir, dass du sie gefangen hast! Wenn nicht, macht mir mein Vater mir die Hölle heiß!"
,,Alles gut, Erin. Ich habe sie." Die Gräser wurden auseinander gedrückt und ein junges Mädchen trat Avon gegenüber. Sichtlich erleichtert, wischte sie sich die Schweißperlen von der Stirn und setzte sich hin. Erin war die Tochter des Hühnerhüters Lyon und etwas jünger als Avon. So wie alle anderen im Dorf war ihre Kleidung viel zu groß und die Ärmel zu lang, sodass der Stoff fast ihre ganzen Hände bedeckte. Ihre blonden Haare waren zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengebunden, der knapp über ihre Schultern reichte und immer hin und her dopste, wenn sie lief.
,,Das ist jetzt schon das fünfte Mal diese Woche, dass dir ein Huhn entwischt ist, oder Erin? Warum bittest du deinen Vater einfach nicht, dass er dir eine andere Aufgabe zuteilt? Du könntest mir beim Ausmisten der Ställe helfen oder auf dem Feld arbeiten. Du bist für das Hühner hüten nicht gemacht, Erin. So leid es mir auch tut." Avon übergab ihr das Tier, das wild vor sich hin gackerte, und setzte sich in den Schneidersitz, während er versuchte, seine braunen Stiefel vom Dreck zu befreien. ,,Du weißt, dass das nicht geht, Avon. Mein Vater muss schon so viel machen. Das Mindeste was ich tun kann, ist auf diese verdammten Hühner aufzupassen. Außerdem gibt es keine Stiefel für Frauen in diesem Dorf. Nur Sandalen. Demnach müsste ich mit meinen Sandalen den Dreck der Pferde wegräumen. Du kennst mich gut. Ich verkrafte ja viel, aber ich habe nur ungern Pferdemist auf meinen Füßen!".
Erin lachte halbherzig und streichelte dem Huhn verträumt die weißen Federn. Avon schaute sie mitleidend an. Es war wahr, dass die körperlich anstrengendere Arbeit den Männern zugeteilt wurde und um ehrlich zu sein, war Erins Argument für ihn ein sehr guter Einwand. Sein Gedankengang wurde allerdings unterbrochen, als er mehrere Wunden an der Hand seiner Freundin entdeckte. Ohne zu zögern, schob er ihren Ärmel hoch und inspezierte ihre Hand. Erin schreckte auf, errötete und zog sich den Ärmel wieder runter.
,,Lass mich raten, du hast wieder trainiert?" Avon schob sich das Hemd, dass durch die Übergröße über seiner Schulter gerutscht war, wieder zurecht. Erin schaute verlegen auf die Erde und fing wieder an das Huhn zu streicheln. ,,Natürlich habe ich trainiert. Ich bereite mich auf den Tag vor, an dem ich unseren ,,König" mal ordentlich meine Meinung geigen kann. Er ist für das Schicksal meines Bruders verantwortlich und für das deiner Eltern. Er ist kein König. Er ist nicht mal ein guter Mensch. Er ist der Grund, weshalb wir die Steuern kaum eintreiben können, Kleider tragen müssen, die uns mindestens fünf Nummern zu groß sind und täglich um unser Überleben kämpfen müssen!". Avon fühlte, wie sein Herz mit Trauer erfüllt wurde und senkte den Kopf.
,,Ich weiß", seufzte er und vergrub sein Gesicht in seine dreckigen Hände. ,,Ich werde ihn nie als unseren König ansehen. König Foras und Königin Pym sind immer noch die rechtmäßigen Herrscher dieses Landes. Als sie über Specilla geherrscht haben, ging es alles und jeden gut."
Erin schaute ihn an. Sie wusste, dass sie gerade ein sehr sensibles Thema angesprochen hatte.
,,Du hast alles in deiner Macht stehende getan, um deine Eltern zu retten. Du hast dein Leben für sie riskiert, als du zwischen den Flammen und dem Rauch nach ihnen gesucht hast. Avon, dich trifft keine Schuld, bitte vergiss das nie. Du kannst nichts dafür und du hättest den Einsturz des Hauses nicht verhindern können." Erin legte eine Hand auf die ihres Freundes.
,,Du darfst auch nicht vergessen, dass die Prinzessin noch irgendwo da draußen ist. Sie wird sicherlich wieder zu uns kehren und Recht und Ordnung einführen. Wenn diese Zeit kommt, dann will ich bereit sein, an ihrer Seite zu kämpfen!" Erin stand entschlossen auf, wobei sie beinahe das Huhn fallen ließ.
Avons Gemüt änderte sich schlagartig. Sein Herz begann zu rasen und sein Blutdruck stieg. Seine Trauer wurde zu Wut und er zupfte sich wieder das Hemd zurecht..
,,Auf Prinzessin Lyria ist ein kein Verlass. Auch wenn sie noch am Leben sein sollte, wird sie nicht die Kraft haben, uns aus dieser Misere zu retten. Ich habe dir erzählt, was ich damals gesehen habe. Das war der Moment, in dem sie ihr Volk und das ganze Königreich im Stich ließ. So viele Menschen mussten leiden. So viele Menschen haben ihr Leben in den Flammen verloren. So viele Menschen müssen auch noch heute leiden. Die Prinzessin war unsere einzige Hoffnung. Im Gegensatz zu uns, beherrscht sie die Kunst der Magie...und ,,König" Benji, dieser Tyrann, hat fast das gesamte Königreich in Flammen setzen und danach wieder neu errichten können. Er wird immer etwas gegen uns in der Hand haben. Man kann Blitzpfeile und Magie leider nicht mit einem Rechen und Hühnern bekämpfen."
,,Ich weiß wie hart es für dich gewesen sein muss. Aber du hast das Gesicht der Person in der weißen Robe nicht sehen können. Vielleicht war es jemand anders. Außerdem war die Prinzessin erst 16. So fortgeschritten in der Magie kann sie noch nicht gewesen sein, da üblicherweise die magische Bildung erst mit 14 beginnt. Das hat mir mein Bruder erzählt. Wahrscheinlich will sie sich erst vorbereiten, bevor sie uns rettet." Avon stand auf und versuchte sich mit viel Mühe zu beherrschen.
,,Dennoch, diese Katastrophe ist jetzt fast sechs Jahre her. Natürlich war ihre Magie nicht sehr fortgeschritten, aber sie hätte es wenigstens versuchen können! Stattdessen ist sie geflohen. Sie ist nichts weiter als ein Feigling!"
Erin lief auf Avon zu mit schmerzverzerrten Gesicht. Die Wunden an ihren Beinen und Händen brannten sehr.
,,Und dabei ihr Leben riskieren sollen? Dann gäbe es gar keine Hoffnung mehr! Dann könnten wir uns gleich ergeben. Ich glaube an Prinzessin Lyria. Wenn sie tot wäre, würde uns Benji nicht so nerven. Er wird uns so lange quälen, bis sie sich zu erkennen gibt!"
Beide schwiegen ein Zeit lang. Avon starrte die trockene, braune Erde an. Seine Gedanken kreisten. So sehr er auch positiv denken und der Prinzessin eine Chance geben wollte, konnte er dies nicht. Zu sehr hatte ihn dieses Ereignis am Tage des Thronsturzes geprägt. Für ihn war es unbestreitbar, dass die Person in der weißen Robe, die damals 16 Jahre alte Prinzessin war. Erin schaute ihren Freund mit scharfen Blick an.
,,Ich muss jetzt gehen, Avon. Dieses Huhn gackert mir die Ohren voll und es nervt mich langsam. Zudem muss ich die Dorfvollversammlung für heute vorbereiten. Wir wollen ja unseren Dörfältesten wählen!", sie zwinkerte Avon zu und verschwand im Maisfeld.
Der junge Mann war wieder alleine und starrte in den blauen, wolkenfreien Himmel. Es war still, nur die Stechmücken summten, einige Vögel zwitscherten und die Grashüpfer zirpten. Seine Gedanken fingen wieder an zu kreisen.
,,Prinzessin Lyria, wenn du irgendwo noch da draußen bist...ich flehe dich an, hilf uns und beweise mir, dass mehr in dir steckt als nur ein feiges Mädchen, das vor seinen Problemen wegläuft!"
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Das Feuer des Blitzes
FantasySpecilla ist ein Königreich in dem einzig und allein die Königsfamilie die Kunst der Magie beherrscht. Das ganze Land lebt in Frieden und Harmonie, bis Benji, ein Vertrauter des Königs, den Thron mit Gewalt an sich reißt und das Land in Schutt und A...