Ich sehe Lillian schon, bevor ich die Straße überquert habe. Sie sitzt auf dem Bordstein und malt etwas in den Kies. Je näher ich auf sie zulaufe, desto mehr beginne ich zu zweifeln. War es wirklich eine gute Idee, Lillian zum Bummel auf dem Jahrmarkt einzuladen? Ist das nicht kitschig? Andererseits, wenn sie hier ist, wird sie schon nichts dagegen haben. Sie blickt auf. Ich winke ihr zu. Sie zögert, dann winkt sie zurück.
»Hallo, Grayson. «
»Ich hoffe, du magst den Jahrmarkt. «
»Solange du mir nicht wieder Kaffe über mein T-Shirt kippst? Klar.«
»Ich werde mir Mühe geben.«
Wir schlendern die Straße hinunter, bis wir den Marktplatz erreichen. Lillian deutet sofort auf ein Karussell, ihre Augen leuchten wie die eines kleinen Kindes, das zum ersten Mal die Wunder der sich drehenden Autos und Tiere erlebt. Ich mustere sie verwirrt. »Ehrlich? Sind wir nicht ein bisschen zu alt für sowas?«, frage ich.
»Als ich das letzte mal mit sowas gefahren bin, da...« Der Satz bleibt unbeendet in der Luft hängen. Ein dunkler Schatten breitet sich auf ihren Gesichtszügen aus. Anscheinend ist es keine durchgehend schöne Erinnerung, die sie mit ihrer letzten Karussellfahrt verbindet.
»Wahrscheinlich hast du recht, Grayson. Wir sind zu alt.«, meint sie.
Plötzlich habe ich das dringende Bedürfnis, das Lächeln zurück auf ihre Lippen zaubern zu müssen. Also schüttle ich den Kopf. »Unsinn. Vielleicht ist es nicht mehr so angesagt, mit 17 Karussell zu fahren, aber es macht bestimmt noch genauso viel Spaß. «
Wir lösen zwei Tickets und setzen uns auf die kleinen, hölzernen Bänke im Feuerwehrauto. Lillian bimmelt an der Glocke, die im Wagen hängt, als wir uns zu der typischen Karussellmusik zu drehen beginnen. Wir fahren im Kreis und winken den Eltern am Rand zu, so wie auch deren kleine Kinder ihnen zuwinken. Wir stören uns nicht daran, was die Anderen denken. Wir stecken unsere Köpfe aus dem kleinen Fenster des Feuerwehrautos und lassen den Wind durch unsere Haare wehen. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, wie schön Lillians Haare sind. Dann hält das Karussell an. Lachend steigen wir aus.»Dort, wo ich herkomme, da waren die Jahrmärkte nie so bunt, so laut, so fröhlich. Überall standen die Wachen und haben aufgepasst, dass sich jeder an die Regeln hält. Dass niemand etwas Verbotenes tut. Dass jeder sich unauffällig verhält. Es war...nicht so fröhlich. Die Kinder haben weniger gelacht. Die Eltern waren strenger. Es ist so anders hier. Alle wirken so sorgenfrei.«, erzählt Lillian mir, während wir unter einem Baum sitzen und kleine Stücke aus der blauen Zuckerwatte zupfen. »Dort, wo du herkommst? «, frage ich. Ich habe mir vorgenommen, sie danach zu fragen. Das ist die perfekte Gelegenheit dazu. Lillian zögert. Schließlich sagt sie bloß:
»Ja. Eine Stadt in der Nähe von Colorado. Dort ist es...kühler. «
Ich nicke. Aber insgeheim bin ich enttäuscht, das sie mir nicht mehr erzählt. »Wieso bist du jetzt hier, Lillian? «, frage ich. Ich will mehr über sie wissen. Ich will ihr Geheimnis mit ihr teilen.
»Grayson, das habe ich dir doch bereits erklärt.« Sie streicht sich mit den Fingern eine Strähne hinter die Ohren.
»Ach ja?« Ich bin verwirrt. Sie hat es mir schon erklärt? Warum kann ich mich nicht daran erinnern?
»Manchmal muss man etwas wirklich Wichtiges tun. Weil viel davon abhängt. Und manchmal geht etwas schief. Da es eine wirklich wichtige Mission war, war es ziemlich schlimm, das etwas schief gegangen ist. Viele Menschen sind deswegen gestorben, Grayson. « Sie sieht mich eindringlich an. Ich schweige. »Ich bin hier, weil mir eine zweite Chance gegeben wurde. Ich bin hier, weil es die letzte Chance ist. « Es ist ruhig. Sie blickt zu Boden. Ich halte noch immer die Zuckerwatte in der Hand, die wir zuvor gekauft haben, aber der Appetit ist mir vergangen. »Es tut mir leid Grayson. Aber die ganzen Dinge in den letzten Tagen, der Zusammenstoß im Café... Ich glaube, du bist derjenige, der mir helfen muss. Schon als ich dich das erste Mal gesehen habe... Es ist nur, ich will dich nicht in Gefahr bringen. Aber es ist der einzige Weg, verstehst du?«
Eine Träne läuft an ihrer Wange hinunter. Ich will sagen, das ich es nicht verstehe, das es mir leid tut, das ich nicht weiß, was sie meint. Aber als sie dort sitzt, und als sie sich die Tränen mit dem Handrücken von der Wange reibt, sich verzweifelt auf die Lippe beißt, da wird mir plötzlich klar, es bringt nichts. Ich weiß nicht, was sie erlebt hat, was diesem Mächen passiert ist. In diesem Moment lege ich einfach die Zuckerwatte ins Gras und schlinge meine Arme um sie.
»Alles wird gut, Lillian. Ich werde dir Helfen, okay? Ich verspreche es dir. «
Sie schluchtzt weiter, aber ich merke, wie sie langsamer ruhiger wird.
»Du musst mir nur erzählen, was los ist, Schlaflos. Dann wird alles gut.«
Ich streiche ihr über die Haare. Sie nickt. »Danke, Grayson. Aber nicht jetzt. Geb mir noch etwas Zeit, bis ich mir sicher bin, was ich... was wir tun müssen. Dann werde ich es dir erzählen. «
Ich nicke und helfe ihr auf. Sie wischt sich über ihr Gesicht und versucht ein Lächeln. Es sieht mehr aus wie eine Grimasse.
»Komm, lass uns einfach...zu der Losbude dort drüben gehen.«, sagt sie und blickt mich fragend an.
»Okay. « Wir schlendern über die Wiese, und Lillian greift nach meiner Hand.
Der Verkäufer an der Losbude ist ein älterer Herr mit Schnauzer und grauen Haaren, die nur noch einen kleinen Teil seines Kopfes bedecken.
»Zwei Lose, bitte. «, sage ich. Lillian schaut sich die Gewinne an. Sie versucht, so tapfer wie möglich zu wirken. Ich muss Lächeln, als ich sie dabei sehe.
Wir öffnen die zu kleinen Röhrchen gerollten Papiere.
»Niete.«, enttäuscht lässt Lillian die Schultern hängen.
»Schade, Lillian.«, sage ich und bemühe mich um ein neutrales Gesicht. Aber meine Mundwinkel beginnen zu zucken und schließlich muss ich Grinsen. »Macht aber nichts, denn hier steht Gewinn. «, lächle ich.
»Was bekomme ich denn nun dafür?«, richte ich mich an den Verkäufer.
Er deutet auf die Stofftiere.
»Freie Wahl.« meint er.
Plötzlich muss ich Lachen.
»Dann hätte ich gerne die Hello Kitty.«
Der Verkäufer sieht mich belustigt an, dann reicht er mir die Plüsch-Katze mit der rosa Schleife im Ohr über den Tresen.
Ich drücke das Kuscheltier direkt in Lillians Arme.
»Die magst du doch. Das weiß ich. «
Sie verdreht die Augen.
»Natürlich. Jeder mag Hello Kitty.«
Aber sie drückt ihr Gesicht tief in das Fell der Katze, die fast so groß ist wie ihr Oberkörper.
Es ist seltsam. Vor diesem Nachmittag war ich überzeugt davon, wie stark Lillian ist. Ich war überzeugt davon, dass sie genau weiß, wo es lang geht, was richtig ist, und was falsch. Aber jetzt, jetzt liegt es an mir ihr zu zeigen, was der nächste Schritt sein wird. Auf einmal scheint sie zerbrechlich unter der Last, die anscheinend auf ihr liegt.
Ich denke an ihre Worte.
Ich will dich nicht in Gefahr bringen. Aber es ist der einzige Weg, verstehst du?
Ich werde ihr helfen. Das beschließe ich, währen wir die Straße hinunter gehen und die Sonne tiefer sinkt, die Musik leiser wird.
Hand in Hand, ich, Lillian und Hello Kitty.
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Das Netz der Zeit #StarAwards_2019 #iceSplinters19 #CA19
AdventureWas, wenn es mehrere Wirklichkeiten gibt? Wenn du dazu bestimmt bist, die Zukunft zu verändern? Wenn du versagst? Was, wenn es eine Möglichkeit gibt alles zu retten? Und wenn du dafür die Liebe deines Lebens aufgeben musst? Als Lillian bei einer Mi...