Seit unserem Besuch auf dem Jahrmarkt sind einige Tage vergangen. Lillian und ich haben uns zwar ein paar Mal im Unterricht gesehen, da wir einige Kurse zusammen haben, aber mehr leider auch nicht. Die Herbstferien sind zwar noch nicht besonders lange zu Ende, aber unsere Lehrer überhäufen uns schon wieder mit Klausuren und Hausaufgaben. Allein in dieser Woche haben wir schon zwei Arbeiten geschrieben und es ist noch nicht mal Freitag. Jeden Abend nehme ich mein Handy und öffne die Schülerchat-Seite. Aber ich weiß nicht wieso, jeden Abend schließe ich sie wieder, ohne Lillian etwas geschrieben zu haben. Und vielleicht tut sie das Gleiche, jedenfalls bekomme ich auch von ihr nichts zu hören.
Ich bin gerade auf dem Weg in die Cafeteria um etwas zu Mittag zu essen, als mein Handy einen Piepston von sich gibt. Eilig ziehe ich es aus der Tasche. Ich bemerke, wie ich insgeheim hoffe, dass es Lillian ist, die ein weiteres Treffen vorschlägt. Ich schaue aufs Display und werde enttäuscht. Es ist nur eine Nachricht der Schule. Mein Nachmittags Unterricht in Philosophie fällt heute aus. Wenigstens etwas. Kurz spiele ich mit dem Gedanken Lillian anzurufen und sie nach einem Treffen zu fragen, weil wir zusammen Philosophie haben und sie folglich auch einen freien Nachmittag hat, bis mir zwei Dinge auffallen: a) Ich habe ihre Nummer nicht, weil wir bisher immer nur über die Schülerchat-Seite geschrieben haben und b) muss ich noch einen Aufsatz für nächsten Montag schreiben. A) wäre zwar kein großes Problem, aber wenn ich nicht das ganze Wochenende mit Hausaufgaben verbringen will, dann sollte ich diesen freien Nachmittag nutzen und endlich anfangen den Aufsatz zu schreiben.
Ich sitze an meinem Schreibtisch und starre frustriert auf des leere Blockblatt vor mir. Ich sitze nun schon mindestens eine halbe Stunde hier und denke über diesen verdammte Philosophieaufsatz nach. Wir sollen überlegen, wofür wir Leben. Was für uns der Sinn des Lebens ist. Dies ist eine typische Mrs. Sparrow Aufgabe und außerdem etwas, dessen Sinn mir sich schlichtweg nicht erschließt. Da piepst mein Handy plötzlich. Eine Nachricht von der Schülerchat-Seite. Wieder hoffe ich, dass Lillian mir geschrieben hat und dieses Mal werde ich nicht enttäuscht.
Grayson, hast du Lust dich mit mir im Coffe and Cupcakes zu treffen? Zum Hausaufgabe machen.
Sie will sich tatsächlich mit mir treffen! Okay, es ist zwar nur zum Hausaufgaben machen, aber immerhin. Wie es scheint habe ich es noch nicht ganz versaut. Das hatte ich insgeheim schon befürchtet, schließlich hatte sie sich in den vergangenen Tagen nicht ein Mal bei mir gemeldet. Ich hatte sogar meine Schwester Aline, die auf einer Universität 150 Kilometer von unserer Stadt entfernt studiert, um Rat gefragt. Sie hatte mir versichert, dass es keinen besonders guten Eindruck auf Mädchen machte, wenn man ihnen Kaffee übers T-Shirt kippte und danach in die Damentoilette platzte und sich über ihre Unterwäsche lustig machte, selbst wenn es Hello Kitty Unterwäsche war. Aber das ist jetzt alles nebensächlich, denn sie will sich ja offensichtlich doch mit mir treffen.
Klar, bin in zehn Minuten da, tippe ich eilig. Ich will schon aus meinem Zimmer stürmen, als mir einfällt, dass wir uns zum Hausaufgaben machen treffen und ich deshalb vielleicht auch meine Sachen mitnehmen sollte.
Lillian sitzt an einem der kleinen Tische im Coffe and Cupcakes. Sie fällt mir sofort auf, da sie optisch überhaupt gar nicht ins Bild passt. Auf dem Tresen stehen jede Menge Cupcakes in den unterschiedlichsten Farben und die Wände sehen aus, als hätte man wahllos Farbeimer darüber verschüttet. Lillian trägt eine schwarze Jeans und einen schwarzen Pullover. Über der Lehne des Stuhls hängt ihre schwarze Lederjacke. Ich weiß nicht, warum es mir erst jetzt auffällt, aber sie trägt eigentlich immer nur schwarz. Ich lasse mich auf den Stuhl ihr gegenüber fallen und frage: »Warum trägst du eigentlich immer nur schwarz?« Wow, Grayson. Großartig. Genau der richtige Einstieg für ein Gespräch, denke ich. Sie blickt von ihremBlock auf, auf dem sie bis eben gerade eifrig geschrieben hat. »Das ist eine Angewohnheit von früher«, erklärt sie mir. Ich will sie nicht weiter nach "früher" fragen, da sie nicht so aussieht, als würde sie mir irgendwelche Fragen dazu beantworten. »Steht dir«, erwidere ich deshalb nur. »Ist das Milchkaffee?«, frage ich und will nach ihrem Kaffeebecher greifen. »Hände weg von meinem Kaffee!«, knurrt sie. Ich lache leise. »Tut mir leid. Ich hätte mir aber Mühe gegeben, ihn dir nicht wieder übers T-Shirt zu kippen.«, versichere ich. Lillian greift selbst nach dem Becher und trinkt einen Schluck. »Da bin ich aber erleichtert. Und nein, es ist schwarzer Kaffee.«, erwidert sie und blickt mich böse an, aber in ihren Augen blitzt ein Lächeln. Seufzend stehe ich auf, um mir selbst einen Kaffee zu holen. Ich hasse schwarzen Kaffee.
Als ich mit einem Kaffee Latte zurück an unseren Tisch kehre, schreibt Lillian schon wieder auf ihrem Block. »Was machst du da eigentlich die ganze Zeit?«, frage ich sie. »Meinen Philosophie Aufsatz schreiben.« Stimmt, ich habe fast schon wieder vergessen, dass wir uns eigentlich zum Hausaufgaben machen getroffen haben. »Und über was schreibst du da so?«, erkundige ich mich in der Hoffnung vielleicht ein bisschen Inspiration für meinen eigenen Aufsatz zu finden. »Einfach das, was Mrs. Sparrow hören will: Freunde, Familie, möglichst viele Menschen davon überzeugen, dass Gerechtigkeit wichtig ist und so weiter«, antwortet Lillian vage. »Warum schreibst du nicht die Wahrheit?«, frage ich. »Weil niemand die Wahrheit über mein Leben hören will.«
»Doch, ich will die Wahrheit hören.« Sie sieht kurz von ihrem Blatt auf und blickt mich fast spöttisch an. »Nein, willst du nicht!«, lacht sie bitter. Es klingt mehr nach einem Befehl als einer Feststellung. Ich habe keine Ahnung, warum sie jetzt so reagiert. Beim letzten Mal hat sie mir doch bereitwillig von ihrem Geheimnis erzählt, aber heute wirkt sie insgesamt kühler und distanzierter als sonst. »Ist alles in Ordnung mit dir?«, frage ich zögerlich. »Alles bestens, danke«, entgegnet sie, immer noch kühl. Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe.Einige Minute sitzen wir nur still da. Ich trinke meinen Kaffee und beobachte Lillian beim Schreiben. Gerade will ich sie fragen, was an ihrem Leben so schlimm ist, dass niemand die Wahrheit hören will, aber stattdessen höre ich mich sagen: »Woher kennst du eigentlich Blackbird?« Das ist merkwürdig. Dass hat absolut nichts mit meiner eigentlichen Frage zu tun hat und obendrein kenne ich überhaupt keinen Blackbird. Warum zum Teufel frage ich dann nach ihm? Warum schwirrt mir plötzlich dieser Name im Kopf herum? Und warum hatte ich keine Kontrolle über meine eigenen Worten? Ich muss zusammen gezuckt sein, denn Lillian legt ihren Stift weg und blickt sehr, sehr langsam von ihrem Block auf. Ihre günen Augen wirken dunkler als sonst und in ihnen Blitz etwas gefährliches, fast schon mörderisches, auf. Etwas, das mich sofort dazu veranlassen will, aufzuspringen und davon zu rennen. Und mit einem Mal habe ich Angst. Ich kenne dieses Mädchen vor mir kaum und weiß fast gar nichts über sie. Bis jetzt hatte ich zwar immer den Eindruck, dass sie vielleicht ein bisschen merkwürdig oder verschlossen, aber sonst ein sehr netter Mensch ist, doch da bin ich mir jetzt nicht mehr so sicher. Lillian sieht aus als würde sie mir jeden Moment fest ins Gesicht schlagen oder schlimmeres. »Verdammt, Grayson, woher kennst du diesen Namen?«, fragt sie gefährlich leise. »Also eigentlich kenne ich ihn gar nicht«, stammle ich unbehaglich. »Und warum fragst du mich dann danach?«
»Ich wollte eigentlich was ganz anderes fragen«, versuche ich mich herauszureden. Ich habe absolut keine Ahnung, was ich verdammt noch mal falsch gemacht haben könnte! »Warum hast du mich dann nicht das gefragt?«, zischt sie, aber ich erkenne Verzweiflung in ihren Augen. Angst. »Weil...auf einmal war dieser Name in meinem Kopf und ich dachte, du wüsstest vielleicht etwas über einen Blackbird.«
»Ich kenne niemanden, der so heißt!« Sie schlägt ihren Block zu und stopft selbigen und ihren Stift in ihre Tasche, dann steht sie abrupt auf. »Ich gehe jetzt besser, bevor du mich nach noch mehr nicht existierenden Leuten fragst«, ihre Stimme klingt kälter als kalt. Ich sehe, dass ihre Hände zittern. Sie zieht sich hastig ihre Lederjacke über und will schon an mir vorbei in Richtung Tür rauschen, als ich sie festhalte um ihr noch eine letzte Frage zu stellen. Meine Finger berühren das kalte Leder ihrer Handschuhe, welche die Fingerkuppen nicht bedecken. »Warum wolltest du dich überhaupt mit mir treffen, wenn unser Gespräch auf sowas hinausläuft?«
»Das frage ich mich auch langsam.« Ihre Stimme klingt derart kalt, dass sie mit einem Schlag den Erdkern einfrieren könnte. Lillian entreißt sich meinem Griff und stürmt aus dem Café.Wie kann jemand, den ich geglaubt habe zu kennen, mir in so kurzer Zeit so fremd werden? Wie konnte sie sich in so kurzer Zeit so verändern und woher weiß ich, wie sie wirklich ist? Was zum Teufel habe ich falsch gemacht? »Beziehungskrach?«, reißt mich die blonde Frau hinter dem Tresen aus meinen Gedanken. »Schön wär's«, schnaube ich. »Ich habe das Gefühl, dass ich gerade die echte Lillian kennengelernt habe, obwohl sie sonst immer so anders war.« Die blonde Frau macht eine große rosa Kaugummiblase, dann sagt sie: »Weißt du, die Menschen sind nicht nur schwarz und weiß, wie wir sie zu kennen glauben, sondern die ganze Farbpalette. Manche Farben bekommen wir nie zu sehen, während wir mit anderen dauerhaft konfrontiert werden.«
Ich hätte nie gedacht, dass ich, der vier Stunden Philosophie pro Woche mit Mrs. Sparrow hat, jemals solche philosophischen Weisheiten von einer Kaugummi kauenden Bedienung im Café erhalten würde, aber vermutlich hat sie Recht und ich kenne einfach nicht alle von Lillians Farben und manche werde ich vermutlich auch nie kennen lernen.
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Das Netz der Zeit #StarAwards_2019 #iceSplinters19 #CA19
PrzygodoweWas, wenn es mehrere Wirklichkeiten gibt? Wenn du dazu bestimmt bist, die Zukunft zu verändern? Wenn du versagst? Was, wenn es eine Möglichkeit gibt alles zu retten? Und wenn du dafür die Liebe deines Lebens aufgeben musst? Als Lillian bei einer Mi...