P r o l o g

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 Die Sohlen meiner Lederstiefel quietschen auf dem grauen Linoleumboden. Der beißende Geruch nach Desinfektionsmittel bereitet mir Kopfschmerzen. Die Neonröhren an der Decke leuchten zu hell, als dass man sich konzentrieren könnte. Trotzdem laufe ich weiter die endlosen Korridore entlang und an den immer gleichen weißen Türen vorbei. Ich habe ein Ziel und ich darf nicht eher stehen bleiben, bis ich es erreicht habe. Denn wenn ich stehen bleiben würde, könnte mich nichts auf der Welt dazu bringen weiter zu gehen. Ich würde aufgeben und das darf auf keinen Fall passieren.

Ich bleibe stehen. Verdammt, nicht zögern! Ich habe ein Ziel und es ist nicht mehr weit bis dahin. Ich muss das schaffen! Ich spähe um die nächste Ecke in den dahinter liegenden Flur. Wie zu erwarten ist es völlig ruhig und keine Menschenseele ist zu sehen. Wir haben lange an diesem Plan gearbeitet. Jetzt ist die einzige Möglichkeit es zu tun. Jetzt oder nie. Ich habe nicht mal zehn Minuten. Mein Herz schlägt so laut, dass ich Angst habe mich dadurch zu verraten. Aber niemand entdeckt mich.

So schnell ich kann laufe ich in den Gang und auf die weiße Tür mit der Nummer 244 zu. Mein Herz rast, ich fühle mich entblößt auf dem kurzen Weg von meinem Versteck bis zur Tür. Kein Grund zur Sorge, versuche ich mich zu beruhigen. Niemand folgt mir. Niemand hat mich entdeckt. Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Ich könnte schwören, einen kalten Blick auf meinem Rücken zu spüren, sodass mich ein Schauer überläuft. Aber als ich mich umdrehe, ist dort natürlich niemand. Ich atme geräuschlos ein, dann drücke ich die Klinke hinunter und schlüpfe in den Raum.

Die Betten stehen dicht gedrängt. Es sind mindestens zwanzig, wenn nicht sogar mehr. Die Personen darin sind an unzählige Kabel und Schläuche angeschlossen. Die Wände sind kahl und grau. Es ist kühler als im restlichen Haus, wahrscheinlich halten sie es nicht mehr für nötig, diesen Raum zu heizen. Wahrscheinlich gehen sie davon aus, dass die Menschen hier sowieso nicht mehr lange leben werden. Womit sie vielleicht auch Recht haben, aber es versetzt mir trotzdem einen Stich. Früher erzählte man uns, wie gut die Ärzte hier ausgebildet sein, wie hoch die Heilungschancen bei einer Behandlung in diesem Krankenhaus sein. Selbst der Präsident sei hier als Kind operiert worden. Damals hatten wir mit großen Augen ehrfürchtig genickt. Früher haben wir unseren Staat bewundert. Früher wäre mir nicht in den schlimmsten Zeiten in den Sinn gekommen, dass alles, was die Regierung uns erzählt, nichts Weiter als Lügen sind. Auch die Regierung selbst ist eine Lüge. Das gesamte System. Aber der Präsident ist mächtig, mächtig genug um Widersetzung zu verhindern. Er manipuliert, ohne mit der Wimper zu zucken. Das muss ein Ende haben. Ich muss dieser skrupellosen Person ein Ende setze. Bevor noch schlimmeres passiert. Bevor er noch mehr Menschen aus meiner Familie etwas antut. Ich kann nicht noch mehr Menschen verlieren. Ich muss ihn töten. Es ist der einzige Weg ihn zu stoppen. Es ist meine Bestimmung.

Ich wende mich den Kranken in den Betten zu. Ich kann nur hoffen, dass sie noch bei halbwegs klarem Verstand sind. Sonst ist alles verloren. Ich räuspere mich und alle Köpfe fahren zu mir herum.

»Hört mir zu, ich habe wenig Zeit. Ich möchte euch um etwas bitten.«

Ich sehe, wie sich die Augen der Kranken weiten und nehme das als ein gutes Zeichen. Sie sind immerhin aufmerksam.

»Ich weiß, wir haben alle Angst. Aber wir können hier sitzen und so tun, als wäre alles verloren. Wir können uns unserem Schicksal fügen. Oder wir können dagegen kämpfen. Seht euch doch mal an. Seht, was er mit euch macht. Ihr seid hier Forschungsobjekte. Es geht nicht darum euer Leben zu retten. Für Blackbird seid ihr als Menschen nichts wert. Ihr seid nur Spielfiguren in seinem grausamen Plan. Kleine Randdetails in seinem großen Plan. Wenn ihr nichts mehr nützt, wird euch keine Gnade gewährleistet. Die Kabel zu euren Herzen werden gekappt werden. Ihr werdet sauber aus dem Weg geräumt werden. Ohne, dass sich überhaupt jemand an euch erinnern wird.«Niemand sagt etwas. Ich habe sie noch nicht überzeugt. Aber ich sehe die Angst in ihren Gesichtern. Wenn ich ihnen noch mehr von den Wahrheiten vorführe, die der Präsident so gut vertuscht, dann werden sie mir helfen. Dann werde ich sie auf meine Seite ziehen.

»Er wird euch alle töten.«

»Ist das so?«, fragt eine kalte Stimme hinter mir.

Ich weiß sofort, wer es ist. Ich weiß, dass ich verloren habe. Trotzdem fahre ich herum. Es ist dumm von mir. Ich hätte stehen bleiben sollen. Ich hätte einfach auf meinen sicheren Tod warten sollen. Das Letzte, was ich gesehen hätte, wären die verängstigten Gesichter der Kranken gewesen. Jetzt sind das Letzte, was ich sehe, seine schwarzen brutalen Augen. Blackbirds schwarze brutale Augen.

Ich bin wie erstarrt. Alles in mir schreit nach Flucht, aber ich bleibe stehen.

Wie in Zeitlupe zieht er die Pistole.

»War nett dich gekannt zu haben, kleine Rebellin. Es tut mir leid, was ich jetzt tun werde, aber ich erwarte von dir, dass du deinen Fehler einsiehst, Lillian Moore.«

Sein Finger krümmt sich um den Abzug. Die Kugel bewegt sich fast lautlos durch den Raum auf mich zu. Das ganze dauert nur eine Millisekunde, aber wenn man stirbt, spielt Zeit keine Rolle mehr.

Die Kugel trifft mich mitten in die Brust.

Einen Moment lang fühle ich mich fast normal. Bis sich der brennende Schmerz schlagartig in meinem Körper ausbreitet. Mit einem gellenden Schrei sinke ich zu Boden. Mein Blut befleckt das hässliche graue Linoleum.

»Ich sehe keine große Bedrohung in euch. Trotzdem solltet ihr vorsichtig sein, denn wer sich gegen mich auflehnt, dem passiert das Gleiche wie ihr.« Die Stimme, mit der er nun zu den Kranken spricht, klingt eisig.

Er deutet erst auf mich, dann auf seine Pistole, die wieder so an seinem Gürtel hängt, als wäre nichts passiert.

»Das hier bleibt unter uns. Habt ihr mich verstanden?« Seine Stimme klingt drohend.

Meine Sinne sind jetzt schon so vernebelt, dass ich nicht mehr richtig sehen kann, aber ich weiß, dass alle nicken, denn keiner wagt es Blackbird zu widersprechen.

Er verlässt den Raum und in der Stille, die zurückbleibt, wird mein eigener Herzschlag immer langsamer.

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