K a p i t e l Z e h n

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Stille. Ich würde gerne lachen, aber etwas sagt mir, dass das kein Witz ist. Ich weiß es so sicher, wie mir der Name "Blackbird" auf einmal bekannt vorkam, ohne dass ich je davon gehört habe. Ich bin verwirrt, denn alles, was Lillian gerade gesagt hat, wirkt so unrealistisch. So unwirklich. Fast lustig. Aber ich lache nicht, denn Lillians Blick ist nicht im entferntesten belustigt, er ist erfüllt von Schmerz und Wut. Ihre gesamte Körperhaltung ist zusammengesunken. Ich habe sie bewundert, jedes einzelne Mal, wenn ich sie gesehen habe. Für ihre Stärke. Aber vielleicht war das alles bloß eine unsichtbare Mauer, ihre Art, dadurch den Schmerz zu verdrängen und zu vergessen. Aber diese Mauer ist jetzt gebrochen. Lillian wirkt noch dunkler als sonst, falls das  überhaupt möglich ist. Ich will etwas sagen, aber ich verstehe nicht, was mit ihr los ist, warum sie meint, dass sie gestorben ist, was ihr passiert ist, dass sie nun so gekrümmt dasteht. Was ist in den letzten Tagen geschehen, in denen sie sich so sehr verändert hat? Warum erkenne ich sie nicht mehr wieder? Aber vielleicht sehe ich das auch falsch. Vielleicht habe ich mich an dem Nachmittag auf dem Jahrmarkt, als alles perfekt schien, als ich glaubte, sie zu kennen, geirrt. Vielleicht war diese Lillian nicht sie selbst, sondern nur ein Mensch, der zwar gleich aussah, aber von Grund auf jemand anderes war. Ein Mensch mit einer unsichtbaren Mauer, die die Schmerzen und Schatten aussperren sollte. Vielleicht ist dieses Mädchen vor mir die richtige Lillian und ich habe die ganze Zeit die Falsche zu kennen geglaubt. Mir fällt nichts ein, was ich sagen könnte, deshalb bleibe ich still. Ich blicke sie einfach nur an.

Erst als mir das Wasser aus den Haaren tropft und über mein Gesicht rinnt, registriere ich, dass es begonnen hat zu regnen. Die tiefdunklen Wolken bedecken den schmalen Streifen Himmel zwischen den engstehenden Häusern der Gasse, in der wir stehen. Endlich blickt Lillian mich an und kommt auf mich zu. Sie sagt nichts, ihr Mund bleibt geschlossen, aber trotzdem höre ich ihre Worte in meinen Gedanken. Ihr Blick zeigt mir, was sie meint. Es ist die Wahrheit.

»Lillian«, bringe ich kratzig heraus. Mehr nicht. Denn was sollte ich schon sagen? Es tut mir leid, dass sie gestorben ist? Wie sollte ich das zu ihr sagen, während sie lebendig vor mir steht? Denn es ist unmöglich. Und trotzdem weiß ich, dass es stimmt.
Jegliches Zeitgefühl verlässt mich, denn ich kann nicht mehr sagen, wie lange wir uns gegenüber stehen und einander einfach nur anschauen. Schweigend.
Schließlich schüttelt sie den Kopf. Ich mache einen Schritt auf sie zu und nehme sie vorsichtig in den Arm.
»Ich glaube dir. Auch wenn ich es nicht verstehe. Ich glaube dir.«, flüstere ich. Sie bleibt ruhig.
»Wirst du es mir erklären?«, frage ich.
»Ich schätze, das werde ich müssen. Irgendwann.«, erwidert sie mit rauer Stimme. Fahrig wischt sie sich die nassen Haare aus der Stirn. Sie befreit sich aus meiner Umarmung und schaut mich an.
»Grayson, es wird eine Zeit kommen, in der du dir wünschst, du hättest mich niemals gekannt. Es ist nicht so, dass ich dich nicht mag. Das solltest du wissen. Das Problem ist bloß, je mehr du über mich erfährst, desto mehr bringe ich dich in Gefahr. «
Sie lacht verzweifelt.
»Blackbird ist eine tickende Zeitbombe. Und irgendwann wirst du ihm gegenüber stehen. Das ist unvermeidlich. Aber dann bin ich es, die Schuld daran ist, wenn er explodiert. Wenn er dich meinem Bruder, meinen Eltern und den zahllosen Opfern hinterherschickt, dann ist es meine Schuld. Und das ertrage ich nicht. «
Ich starre sie an.
»Grayson, du musst dich von mir fern halten. Verstanden? Du fällst dein eigenes Todesurteil, indem du dich mit mir triffst. «
Jetzt ist sie es, die mich anstarrt. Sie erwartet ein Nicken, ein Einverständnis, einen Abschied.
Und auch wenn mein Kopf vor Fragen zu explodieren scheint, sprudeln die Worte plötzlich aus mir heraus. Ich schüttle den Kopf.
»Nein, Lillian. Ich glaube zwar nicht, dass ich dich kenne, und schon gar nicht, dass ich dich verstehe, aber was du sagst, ergibt für mich keinen Sinn. Hör mir zu, früher dachte ich immer, alle Menschen wären gleich. Leicht zu beeinflussen und in ihren eigenen Träumen gefangen. Aber so ist es nicht. So sind nicht alle Menschen. Du bist nicht so. Und deshalb werde ich nicht gehen. Ganz gleich, was du meinst. Es ist mir egal, wenn es gefährlich wird. Was auch immer ›es‹ in diesem Fall ist. Ich werde nicht gehen. Verdammt, nein, das werde ich nicht. Ich will mit dir zusammenarbeiten, nicht gegen dich. Erklär mir einfach, was los ist. Ich will wenigstens wissen, in was ich da hinein geraten bin, okay?«
Sie sagt nichts, blickt zu Boden. Schließlich nickt sie leicht. Als sie wieder aufschaut, leuchten ihre Augen noch heller als sonst. Aber vielleicht liegt das auch nur an ihren vom Regen nassen Haaren oder an meinen Nerven.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Dec 21, 2018 ⏰

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