Die Familie Hood hat natürlich keinen Kescher, mit dem man Laub und so Zeug aus dem Pool fischen kann. Wäre ja auch zu einfach gewesen. Statt nach einem ähnlichen Gegenstand zu suchen klettere ich nochmal über den Zaun und hole unseren Kescher. Das spart wahrscheinlich einiges an Zeit. Mit dem Netz fische ich den einsamen Pfeil aus dem Pool und werfe ihn auf unser Grundstück zurück, ebenso den Kescher. Doch gerade als ich den beiden folgen will reißt mich etwas an der Schulter zurück und instinktiv schlage und trete ich um mich. Tatsächlich treffe ich die Person, sie stolpert einige Schritte nach hinten und fliegt mit einem lauten Platsch in den Pool. Was wahrscheinlich etwas lustiger wäre wenn sie mich vorher losgelassen hätte. Keuchend tauche ich auf und drehe mich ängstlich einmal um die eigene Achse. Die Person klettert gerade aus dem Wasser und lässt mich dabei nicht aus den Augen. Und obwohl ich ihn noch nie gesehen habe, erkenne ich ihn sofort. „Hey Calum. Ich bin Grace, eure neue Nachbarin.“
Erst glaubt er mir nicht und verbietet mir aus dem Pool zu kommen. „Du bleibst genau da, ich ruf die Polizei.“, droht er und bombadiert mich mit bösen Blicken. Keine Ahnung warum, aber als er das sagt werde ich sauer. „Ja genau, mach das. Dann bringen sie mich heim zu meiner Mutter, die wohnt praktischerweise ja genau nebenan. Ich bin doch nur hier weil deine Schwester meinen Pfeil in euren Pool geschossen hat.“. Nun wirkt er etwas unsicherer. „Und wo ist dieser Pfeil?“, fragt er nach kurzem Nachdenken und ist scheinbar wahnsinnig stolz auf seine Kombinierfähigkeiten. Stumm deute ich auf unseren Garten und als er vom nachschauen zurück ist, ist er ein wenig rot um die Nase. „Trotzdem kannst du nicht einfach zu uns rüberklettern.“ „Mali hats mir erlaubt.“, behaupte ich einfach mal. Dass diese meine Aussage später nicht bestätigen wird ist gerade Nebensache. Wenigstens darf ich jetzt endlich aus dem kalten Wasser klettern. „Ha, gut das ich doch nicht das weiße Shirt angezogen hab.“, sage ich mehr zu mir selbst. Das Grinsen von Calum entgeht mir jedoch nicht. Erst als ich jetzt so vor ihm stehe wird mir klar, das er nur etwa 10 Zentimeter größer ist. Wenn ich den Kopf ein kleines bisschen hebe sehe ich direkt in seine Augen und, wow, sind die schön. Schnell wende ich den Blick ab und maschiere zurück zur Mauer. Beim ersten Versuch rutsche ich ab und schürfe mir das Knie auf, doch natürlich lasse ich mir nichts anmerken. Beim zweiten Mal lassen meine Arme plötzlich nach als ich mich hochstemmen will und ich lande wieder auf dem Boden. Als ich zum dritten Versuch ansetze, räuspert sich mein neuer Nachbar „Grace, weißt du..“. Doch er wird sofort von mir unterbrochen: „Was? Willst du immer noch die Polizei rufen? Dann mach doch, ist mir scheiß egal. Aber dann kannst du dir für den Rest deines Lebens Hannah Montana CD's auf voller Lautstärke anhören, das schwöre ich!“, fauche ich wütend und drehe mich wieder zu ihm. Ehrlich, keine Ahnung wieso ich meine Klappe auf einmal so weit aufreiße, und das auch noch vor einem Typen der mir optisch sofort gefallen hat. Doch statt sauer und beleidigt zu sein grinst der Junge vor mir plötzlich noch breiter. „Eigentlich wollte ich dir nur sagen das wir auch Gartentor zu eurem Grundstück haben.“, sagt er und ich höre deutlich wie er sich das Lachen verkneift. Mit einem Schlag ist meine Wut weg und ich fühle mich.. dumm. Richtig dumm. Wie konnte ich nur das Tor übersehen, das keine 5 Meter neben dem Mauerstück ist über das ich gerade klettern wollte? Peinlich berührt senke ich den Blick und räuspere mich. Und danach gleich noch mal. Wie komme ich hier so schnell wie möglich weg? Es gibt nur drei Optionen. Erstens: Zurück in den Pool und mich selbst ertränken. Zweitens: Durch das Tor gehen und den Scham ertragen. Und drittens: So tun als ob ich ein geheimer Ninja bin und mit Absicht über Mauern mit Gartentor klettere. Für die ersten beiden Möglichkeiten kann ich mich nicht gerade erwärmen, vorallem weil es ziemlich qualvoll sein soll zu ertrinken. Und die Last des Schams ist zu groß um sie zu tragen. Bleibt also nur noch Option 3. Blitzschnell drehe ich mich um und ziehe mich an der Mauer hoch. Als ich auf der Kante sitze, sehe ich mich nochmal um „Ein Tor ist aber keine Herausforderung.“, sage ich so cool wie möglich und springe in unseren Garten. Leider lande ich genau auf dem Netzende des Keschers und knalle mir den Stiel ins Gesicht. Da jedoch kein Gelächter folgt, gehe ich davonaus das Calum meine Aktion nicht mitbekommen hat. Mit schmerzender Nase räume ich Kescher und Pfeil in den Schuppen und gehe auf die Terasse zu. Mom, Cadie, Finn, Will, Mali, Mrs. Hood und Calum sitzen am Tisch und reden während sie essen. Zuerst sieht mich Cadie, die scharf die Luft einzieht. Die anderen folgen ihren Blick und augenblicklich verstummt das Gespräch. „Grace Young! Wieso, um alles in der Welt, bist du klitschnass und hast eine Nase wie eine Tomate?“, will Mom entsetzt wissen. „Lustige Geschichte. Naja, ich hab Rudolf das Rentier getroffen und er meinte wir sollten Partnerlook versuchen. Danach sind wir eine Runde um den Block geflogen und über dem Pool bin ich blöderweise runtergefallen. Entschuldigt mich jetzt bitte, ich zieh mir was anderes an. Und dann lese ich. Und wenn Afrika zugefroren ist komm ich vielleicht wieder runter. Gute Nacht.“ Mit diesen Worten verschwinde ich schnellstmöglich ins Haus und setze meinen Plan in die Tat um. Nach einer Dusche schlüpfe ich in meine Jogginghose und verschwinde in mein Lesezimmer, auf das ich extra bestanden habe. Eigentlich war es als begehbarer Kleiderschrank gedacht, doch darauf habe ich verzichtet. Es ist ein relativ kleiner, langgezogener Raum mit einem großen Fenster. An den Wänden haben wir überall Bücherregale aufgebaut und direkt unter dem Fenster hat mein Vater mir eine viereckige Matratze mit einem einfachen Bettrahmen spendiert. An der Decke hängen Lichterketten und Leuchtsterne. Es gibt keinen Platz an dem ich lieber bin. Ich hole mir den zweiten Teil von „Das Lied von Eis und Feuer“ und versinke in die Welt von Daenerys, Tyrion, Sansa und so weiter. Für eine Weile lebe ich in Westeros und nicht in Sydney. Und zum Glück gibt es dort auch keine hübschen Nachbarjungs vor denen ich mich blamieren kann. Irgendwann klopft es an der Tür, die ich nur verschließe wenn ich wirklich nicht gestört werden will. Meine Familie weiß das und respektiert es auch, also ist es entweder ein Notfall oder jemand der diese Regel nicht kennt. „Wer ist da?“, rufe und lege das Buch beiseite. „Mali. Kann ich reinkommen?“, kommt es schüchtern vom anderen Ende der Tür. Komischerweise freue ich mich das sie hier ist. Ich springe auf und entriegle die Tür. Staunend betritt sie den kleinen Raum und wirft einen Blick auf meine Bücher. Während sie über die einzelnen Buchrücken fährt und einige genauer betrachtet setze ich mich wieder auf das Bett. „Wieso bist du hier oben? Die Party steigt doch unten.“, sage ich nach etwa zwei Minuten. Vorsichtig schiebt sie Divergent wieder ins Regal und setzt sich neben mich. Ich weiß es zu schätzen wenn jemand achtsam mit meinen Büchern umgeht. Sie sind eine der wenigen Dinge die bleiben, egal was kommt. „Mein Bruder hat mir erzählt was bei uns passiert ist. Keine Sorge, ich hab gesagt das du wirklich meine Erlaubnis hattest.“, sagt sie und lächelt mich an. Und schon steigt Mali nochmal eine Stufe auf meiner Symphatieskala. „Danke, aber das hättest du nicht machen müssen. Mir egal ob dein Bruder mich für eine Lügnerin hält oder nicht.“, meine ich und zucke mit den Achseln. Es stimmt, es ist mir egal. Nach meinen peinlichen Aktionen hält er mich eh für einen Volltrottel. Mali lässt sich nach hinten fallen und starrt auf die Leuchtsterne, die nur schwach leuchten weil die Lichterketten an sind. Wir schweigen bis sie irgendwann wieder redet: „Wenn ich du wäre, man, ich würde ständig hier sein. Ihr wohnt erst zwei Wochen hier und dieser Raum ist viel gemütlicher als das ganze restliche Haus zusammen. Bücher sind zwar nicht so mein Ding aber nach dem was deine Mutter erzählt hat muss es für dich ein Paradies sein.“. Geschockt drehe ich mich zu ihr um „Mom hat über mich geredet? Oh Gott, ich verlasse nie wieder dieses Haus.“. Kichernd winkt sie ab „Es war nichts Schlimmes. Sie meinte nur das sie manchmal glaubt, dass du Bücher mehr liebst als irgendwas sonst.“, erzählt sie und klingt dabei nicht so als ob sie das lustig findet. Obwohl ich nicht will, lächle ich. Das ist gar nicht mal so falsch. Wir unterhalten uns noch eine Stunde über alles mögliche, dann ruft Mrs. Hood, ich soll sie Joy nennen, Mali nach unten und die Familie Hood verschwindet.
Ich putze mir die Zähne und lege mich ins Bett. Kurz bevor ich einschlafe höre ich Cadie telefonieren. Das einzige, dass ich raushöre ist das unser Nachbar ein echtes „Schnittchen“ ist.
Am nächsten Morgen weckt mich eine Biene, die zu dumm ist um durch mein geöffnetes Fenster rauszufliegen. Mit dem Gesicht im Kissen vergraben fauche ich sie an: „Flieg doch einfach raus, keiner will dich hier haben.“. Leider interessiert sich das Tier herzlich wenig für meine Meinung. Da der Klügere ja bekanntlich nachgibt stehe ich schließlich auf und mache mir mein Frühstück. Mom ist schon in der Kanzlei, die Zwillinge und Cadie schlafen wahrscheinlich noch, da sie keine lästigen Bienen im Zimmer haben. Nach zwei Scheiben Toast und einem Glas Wasser bin ich wach und eigentlich will ich gerade in mein Lesezimmer gehen, da taucht plötzlich eine verrückte Idee in meinem Kopf auf: Ich könnte rausgehen. Einfach mal die Gegend ansehen, den Strand besuchen, den ich bisher nur durch die Windschutzscheibe von Moms Auto aus gesehen habe. Bevor ich keine Lust mehr habe ziehe ich mir eine Jeans an, die ich bis zu den Knöcheln hochkremple, dazu ein einfaches blaues Top und farblich passende Vans. Heute ist es ein wenig frisch und laut dem Wetterbericht soll es regnen. Also wickle ich mir noch eine Weste um die Hüften, hinterlasse meinen Geschwistern eine Nachricht und verlasse das Haus zum ersten Mal. Wir leben in einem großen Viertel das 5 Minuten vom Strand und 15 Minuten vom Stadtzentrum entfernt ist. Für die Menschenmassen in den Straßen Sydneys fühle ich mich noch nicht bereit, also schlage ich wie geplant den Weg zum Strand ein. Trotz der ersten Wolken, die sich langsam am Himmel breitmachen, ist der etwa 4 Kilometer lange Strand gut besucht. Ein paar Surfer verlassen gerade das strahlendblaue Wasser und in mir rührt sich die Lust mein altes Surfboard auszupacken und mich einfach für ein paar Stunden auf nichts anderes außer die Wellen zu konzentrieren. Das letzte Mal war ich vor einem Jahr surfen. Ich bin eigentlich ganz gut darin aber ich habe mich nie getraut eine große Welle zu nehmen. Zögernd schlüpfe ich aus meinen Schuhen und betrete den warmen Sand. Ohne Vorwarnung steigt in mir ein Bild vom goldenen Strand in Melbourne auf, dem Strand der mir so vertraut war. Schnell verdränge ich die traurigen Gedanken, die unweigerlich zu meinem Vater führen und maschiere zum Meer. Eine Weile genieße ich das kühle Wasser, dass meine Füße umschließt und beobachte die Familien, die vergnügt im Wasser herumtollen. Etwas weiter hinten entdecke ich einen Steg aus Steinen der etwa 30 Meter ins Meer reicht. Ich habe sofort das Verlangen da rauf zu klettern und mich ein wenig hinzusetzen, doch als ich losgehen will entdecke ich eine Gruppe Jugendlicher, die kurz vor dem Steg liegen. Unter ihnen ist mein Nachbar. Aus Angst dass er mir irgendeinen blöden Kommentar an den Kopf wirft drehe ich wieder um. Eigentlich ziemlich blöd von mir, wahrscheinlich würde Calum mich nicht mal erkennen. Schlecht gelaunt gehe ich wieder heim.
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Neighborhood | c.h. / m.c. |
FanfictionWenn du 17 Jahre alt bist, dann ist dein Leben meistens scheiße. Das kann ich, Grace Young, mit gutem Recht behaupten. Gerade noch habe ich ein relativ normales Leben, da kommt plötzlich raus das mein Dad mit der Kindergärtnerin meiner Zwillingsbrüd...